"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Montag, 6. Mai 2013

DRUCKSACHE NR. 14: Zum 50. Todestag von Veza Canetti


Als die Prokops Rußland verließen, versteckten sie ihren Schmuck auf folgende Art und Weise. Bobby, der Sohn, hielt in der Hand einen ausgehöhlten Stock, dick wie er selbt. In die Höhlung kamen Smaragde, Rubine und fleckenreine Diamanten. Frau Prokops Schirmgriff war ein Mops mit einer Krause. In seinem Kopf ruhten zwei Paar Ohrgehänge. Tamara, die Tochter, trug einen Herrenschirm. Im Griff schlängelte sich eine Rivière. Die Messerklinge zum Schneiden des Fleisches klappte in ein breites Gehäuse. Es barg ein Vermögen. Nur Ljubka, die Waise, hatte nichts bei sich. Neben ihr lagen die Lebensmittel, und Frau Prokop gab ihr auch noch die Weißbrötchen in Verwahrung.

So beginnt die Erzählung "Geduld bringt Rosen" der 1897 geborenen Wiener Autorin Veza Canetti, die ab 14. August 1932 in Fortsetzungen in der Arbeiter-Zeitung erschien (unter einem ihrer Pseudonyme, Veza Magd). Auf der selben Seite, auf der Teil 1 erschien, wimmelte es von Anzeigen. Da wurde geworben für Tiroler Zirbel-Wohnküchen, die im Möbelhaus Weiss in der Neubaugasse in "einer sehenswerten Ausstellung" frei zu besichtigen waren. Das Möbelhaus Thüer in der Kaiserstraße bot "Möbel staunend billig!" an, und von einer Barackendemolierung in Jedlesee waren Fenster, Türen, Kantholz und Bretter billigst zu besorgen. Wer günstige Kleidungsstücke, Pelze, Wäsche, Schuhe, Gold- und Silberwaren zu kaufen beabsichtigte, konnte an mehreren Adressen die "Schaustellung verfallener Pfänder" besichtigen. Wie ein Echo auf die Geschichte von den Prokops wirkt schließlich die Reklame für den Abverkauf der Damenkonfektion des Warenhauses Gerngross: "Es darf kein Stück zurückbleiben". 

Nicht nur diese Werbeanzeigen, auch Veza Canettis sozialkritische Erzählungen, Romane und Stücke erzählen vorrangig vom Alltag jener Menschen, die ihr Leben unter schwierigen Bedingungen fristen müssen, für die der sparsame Umgang mit Ressourcen eine notwendige Überlebensstrategie ist. Die Brötchen, die Ljubka von ihrer einstmals sehr wohlhabenden Tante zugesteckt bekommt, erweisen sich als Verstecke für weitere Schmuckstücke - die mittellose Nichte wird unwissend zum Schmuggel der verbliebenen Wertgegenstände über die Grenze missbraucht, ein Vergehen, auf das die Todesstrafe steht. Die Lektion aus der Geschichte: Wer arm ist, darf nicht mit selbstlosen Zuwendungen rechnen. 
        
Auch in anderen Texten von Veza Canetti spielen Dinge eine wichtige Rolle: Sie symbolisieren die soziale Stellung der Protagonisten, sie stehen für eine spezifische Lebenssituation, sie sind - wie im Fall der Prokops - Hoffnungs- und Erinnerungsträger, oder - wie im Fall der entstellten Figur Runkel in "Die gelbe Straße" - ein herbeigesehntes Mittel, das eigene elende Leben zu beenden, wenn diese nichts anderes wünscht, "als ein schwerer Lastwagen, ein Viehwagen, eine Tausend-Kilo-Walze oder eine vierfache Straßenbahn möge über ihren fürchterlichen Körper fahren und ihn zermalmen." 

Zum 50. Todestag von Veza Canetti (sie starb am 1. Mai 1963 in London) erschien in der Wiener Zeitung ein Beitrag von Evelyne Polt-Heinzl ("Alltagsdramen der Schwachen", Wiener Zeitung.at26.4.2013), in Die Presse ein Beitrag von Petra Ganglbauer ("Ein Leben als Magd", Die Presse.com, 26.4.2013) und die Radioreihe Leporello auf Ö1 brachte am 6. Mai 2013 einen von Irene Suchy gestalteten Beitrag (Zum Nachhören).

Neben den großteils in den 1930er Jahren geschriebenen und teilweise erst posthum publizierten literarischen Werken Veza Canettis (Die gelbe Straße, Geduld bringt Rosen, Der Fund, Der Oger, Die Schildkröten) wärmstens zu empfehlen: Der Briefwechsel zwischen ihr, Elias Canetti und dessen Bruder Georges (Veza Canetti/Elias Canetti: Briefe an Georges, München 2006, Carl Hanser Verlag) - hier erweist sie sich einmal mehr als eine scharfzüngige und oft sehr witzige Meisterin in der Schilderung von Alltagsszenen.

   

Keine Kommentare: