"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Mittwoch, 12. Februar 2014

FOTOSACHE NR. 27: Februar 1934 in einem privaten Fotoalbum - der zerschossene Goethehof


© Archiv Susanne Breuss



Auch wenn das Familienalbum dazu dient, die schönen Momente des Lebens zu bewahren, so hinterlässt die „große Politik“ doch immer wieder ihre Spuren. Häufig eher indirekt, manchmal sehr unmittelbar, wie im Fall der hier abgebildeten Aufnahme vom März 1934, die den in den Februarkämpfen angeschossenen Goethehof in Wien-Donaustadt (damals zum 2. Wiener Gemeindebezirk gehörend) zeigt. Solche Dokumente politischer Gewalt finden sich selten inmitten der typischen Familiensujets, soll doch nichts die Harmonie der persönlichen Erinnerungsfotos stören. In Anbetracht der Bedeutung, die dem bewaffneten Bürgerkrieg im Februar 1934 im kollektiven Gedächtnis zukommt, erscheinen jedoch gerade solche Aufnahmen von zerstörten Gemeindebauten keineswegs als „Fremdkörper“ im visuellen Familiengedächtnis. Die Niederschlagung der Sozialdemokratie durch das austrofaschistische Regime versinnbildlichte sich in den durch Artilleriebeschuss beschädigten baulichen Manifestationen des „Roten Wien“. Die Gemeindehöfe waren nicht nur weltweit beachtete Symbole der sozialdemokratischen Wohnbaupolitik, sondern auch reale Orte eines reformierten Alltagslebens.
Dem politischen Gegner galt es daher als besonderer Sieg, die verhassten „roten Festungen“ in Trümmern liegen zu sehen. So veranlasste die Regierung Dollfuß nach den Februarkämpfen die Herausgabe einer Postkartenserie mit Ansichten zerschossener Wiener Gemeindebauten. Offensichtlich fanden solche Ansichtskarten jedoch weniger in die privaten Fotosammlungen von Angehörigen der Polizei, des Bundesheeres oder der Heimwehr Eingang, sondern in jene der Opfer und Verlierer. Für diese dokumentierten sie nicht nur die Zerschlagung des politischen Widerstands, sondern auch das Ende einer großen Hoffnung, die sich auf weit mehr als politische Programme bezog. Die Gemeindebauten standen für ein Stück gelebte Utopie und die Zerstörung des unmittelbaren Lebensumfeldes kam einer massiven Bedrohung der persönlichen Identität gleich.

In den Jahren 1928 bis 1930 erbaut, zählte der zwischen Kaiserwasser und Schüttaustraße angesiedelte Goethehof zu den imposanten Vorzeige-Wohnhausanlagen des „Roten Wien“. Er war im Februar 1934 besonders hart umkämpft. Das Café Goethehof wurde dabei vollkommen zerstört, ebenso die darüber liegenden Wohnungen. Die Zeitung „Germania“ berichtete: „Vielleicht an keinem anderen Ort sieht man die Schrecken des Bürgerkrieges deutlicher als hier. Die Bewohner irren verschreckt umher und sehen verstört auf das Trümmerfeld, das ehedem ihre Wohnung war.“ Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei den ursprünglichen Besitzern dieses anonymen Fotos um Bewohner des Goethehofes gehandelt hat. Möglicherweise befand sich deren Wohnung im Bereich des fotografierten Gebäudeabschnitts.



Dieser Text erschien erstmals als:
Susanne Breuss: Die Zerstörung einer Utopie (= Fotoglosse "schwarz & weiß"), in: Wiener Zeitung Extra, 14. Februar 2009, S. 2.
(hier wiedergegeben ist nicht das ursprünglich abgedruckte Foto, sondern eine Ansicht der entsprechenden Albumseite, außerdem handelt es sich hier um meine ursprüngliche Textfassung) 


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