"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Samstag, 9. August 2014

ANSICHTSSACHE NR. 64: Sticken für den Kaiser



Foto: Christa Knott © ÖMV



Im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien ist noch bis zum 2. November 2014 die Ausstellung "Arbeiten ruthenischer Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg. Stick- und Knüpfmusterstücke" (nähere Infos hier) zu sehen. 
Die Kuratorin Kathrin Pallestrang erläutert für diesen Blog, ausgehend von einem der Exponate, die historischen und politischen Hintergründe dieser Textilarbeiten:

Sticken für den Kaiser

Kartonplatte, darauf aufgeklebt drei Stickmuster (Baumwollgarn auf Mischgewebe in Flach- und Kreuzstich) mit den Inventarnummern ÖMV/38639, ÖMV/38640 und ÖMV/38641, Aufschrift auf dem Karton: „Bezirk Towmatsch“.
 


Alltag in einem Flüchtlingslager: Handarbeitskurse sowie Näh- und Stickunterricht in der Lagerschule gehörten zur Zeit des Ersten Weltkriegs zum täglichen Programm für die Frauen und Mädchen des Lagers Gmünd im Waldviertel. Hier war innerhalb kürzester Zeit eines der größten Lager für die Kriegsflüchtlinge der Habsburgermonarchie errichtet worden. Rund 30.000 Ruthenen aus den Grenzgebieten der Monarchie zum russischen Zarenreich lebten hier von 1914 bis 1918 in mangelhaft ausgerüsteten Holzbaracken und litten unter der schlechten Versorgung mit Kleidung und Nahrung. Ein großer Teil von ihnen liegt am Lagerfriedhof begraben. Bereits vor Beginn der Kampfhandlungen waren 1914 tausende Menschen im Grenzgebiet des Kronlandes Galizien zum Zarenreich vom k.u.k. Militär evakuiert, vertrieben oder ausgewiesen worden. Ein häufiger Grund war Spionageverdacht. Die dort ansässigen ruthenischen Untertanen wurden generell verdächtigt, mit dem slawischsprachigen Feind zu kooperieren. Von der Habsburgischen Verwaltung wurden alle, die eine ostslawische Sprache oder einen ostslawischen Dialekt verwendeten, als „Ruthenen“ bezeichnet. Diese lebten vorwiegend in Galizien, der Bukowina und Nordungarn (Karpatoukraine), also in Gebieten, die vom Krieg besonders rasch und heftig getroffen wurden. Die Behörden Österreich-Ungarns waren auf die Flüchtlingsströme nicht vorbereitet. 1915 eröffnete das k.k. Innenministerium daher in Wien eine Ausstellung, die anhand von Fotos und gefälschten Statistiken das Gegenteil beweisen sollte. Ein großer Bereich der Schau widmete sich den in den Lagerwerkstätten erzeugten hausindustriellen Produkten wie Strohschuhen, Puppen, Karren oder Textilien wie die vorliegenden Handarbeitsmuster, die für die Ausstellung auf Kartons aufgeklebt wurden. In der Präsentation dieser Produkte wurde die Nationalität der Hersteller und Herstellerinnen hervorgehoben. Vorgeblich dienten die Arbeiten im Sinne der Gewerbeförderung dem Erhalt von traditionellen Mustern und Herstellungstechniken, worin sich die Ausstellung nicht von den großen und kleineren Präsentationen von Volkskunst und Hausindustrie unterschied, wie sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert populär waren, so etwa im Rahmen der Weltausstellungen. In der Presse wurde diese Produktschau hochgelobt und als Möglichkeit gesehen, den nationalen Formenschatz der „heimatlosen Kinder des Vaterlands“ zu erhalten und für ihre Rückkehr zu konservieren. Die Arbeit in den Lagerwerkstätten fand allerdings nicht freiwillig statt, sondern war Zwangsarbeit. Ein großer Teil der erzeugten Güter waren außerdem kriegswichtige Produkte, wie die Strohschuhe, die den Soldaten an die Front geliefert wurden. Die Presse hob gerade diese Verbindung des Nützlichen mit dem Pittoresken der Volkskunst positiv hervor. Die Reduktion der Lebensrealität der Flüchtlinge auf die entzückenden Dinge, die sie produzierten, entwarf jedoch eine Scheinwelt, die harmlos und niedlich wirkte. Wie in den früheren Ausstellungen von Hausindustrie auch sollten auf diese Weise die Völker der Monarchie einander näher gebracht und Unterschiede eingeebnet werden. In Wirklichkeit trug dies jedoch zur Typisierung bei und verstärkte Unterschiede nachhaltig.

Die Beschäftigung mit den wunderschönen, großteils sehr fein gearbeiteten Stickereien zeigt wieder einmal, dass die sogenannte Volkskultur bzw. die Volkskunst nie losgelöst von gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet werden können. Sie sind nie einfach nur ästhetisch ansprechend oder schön, sondern immer hochpolitisch.


Literatur:

Kathrin Pallestrang (Hg.): Stick- und Knüpfmuster ruthenischer Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg. Aus der Sammlung des Volkskundemuseums Wien. Katalog zur Ausstellung „Arbeiten ruthenischer Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg: Stick-und Knüpfmusterstücke“ im Österreichischen Museum für Volkskunde 30. April bis 2. November 2014 (= Objekte im Fokus, Band 4). Wien 2014. ISBN 978-3-902381-50-7



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