"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Montag, 26. November 2012

HÖRSACHE NR. 5: "Arme-Leute-Butter" – Margarinekonsum und Wirtschaftskrise


Werbeanzeige, 1931 (Archiv Susanne Breuss)


Seit September 2012 sendet Ö1 im Rahmen von Leporello die von Wolfgang Popp in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum und dem Technischen Museum Wien gestaltete Jahres-Serie „Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte“, in der ausgewählte Alltagsdinge aus den Sammlungen der beiden Museen porträtiert werden.
Heute ging es in der Sendung um ein Email-Werbeschild für Thea-Margarine aus dem Jahr 1930 und um die Bedeutung des Margarinekonsums zur Zeit der Weltwirtschaftskrise nach 1929 (Interview mit Susanne Breuss).


Werbeschild für Thea, um 1930
Foto: © Wien Museum


Margarine zählte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu jenen Markenprodukten, die massiv beworben wurden – im Stadtbild machten vor allem farbenfrohe Emailschilder auf dieses als preisgünstiges Butter-Surrogat bereits im 19. Jahrhundert entwickelte Nahrungsmittel aufmerksam. Mit der Industrialisierung war es insbesondere in den städtischen Ballungsräumen zu einer "Fettlücke" gekommen und durch das Auseinanderfallen von Arbeits- und Wohnort fand nun das belegte oder beschmierte Brot als von zuhause mitgenommene Jause weite Verbreitung.

Anfänglich stellten Seifen- und Kerzenproduzenten Margarine her, denn für alle diese Produkte diente Fett als wichtiger Rohstoff. In Österreich waren dies etwa die Liesinger Firma Sarg oder die Penzinger Firma Apollo mit der "Wiener Sparbutter" bzw. der "Prima Wirtschaftsbutter".
"Thea" wurde 1923 von den Kunerolwerken in Wien-Liesing mit großem Werbeaufwand als erste österreichische Margarinemarke eingeführt. Der Name wurde im Rahmen eines Preisausschreibens ermittelt – eine sehr geschickte Strategie, da so das neue Produkt schon bekannt war, noch bevor man es kaufen konnte.

In Österreich vermochte sich industriell hergestelltes Streich- und Kochfett zunächst nicht so gut durchzusetzen wie etwa in den nördlichen Regionen Deutschlands (weshalb nach 1938 die Deutschen als "Margarinefresser" galten und das Fett selbst als "Hitlerbutter" bezeichnet wurde). Doch angesichts der Wirtschaftskrise stieg in den Jahren nach 1929 auch hierzulande der Margarineverbrauch deutlich an.

Die berühmte, im Jahr 1933 publizierte sozialwissenschaftliche Studie von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel "Die Arbeitslosen von Marienthal. Eine soziographische Studie über die Folgen langandauernder Arbeitslosigkeit" beschäftigte sich auch mit den durch die Arbeitslosigkeit bedingten Veränderungen im Nahrungsmittelkonsum. So ergab eine Analyse von Essenslisten unter anderem Veränderungen beim Margarineverzehr: Durch die finanziellen Einschränkungen wurde nicht nur mehr Margarine konsumiert (auch von solchen Personenkreisen, die sie zuvor gemieden hatten), bevorzugt wurden nun auch preiswertere Sorten und kleinere Verpackungseinheiten. Slogans wie jener auf dem Thea-Emailschild von 1930 ("Schmeckt wie feinste Teebutter") sollten wenigstens die Illusion des Echten vermitteln. 


Radiosendung:

Sonntag, 25. November 2012

TERMINSACHE NR. 2: Das Materielle im Entstehungsprozess von Werken - Tagung "Das Verborgene im Werk"


"Das Verborgene im Werk – Einfälle, Skizzen, Modelle", eine vom 30.11. bis 1.12.2012 im Institut français de Vienne stattfindende Tagung, beschäftigt sich mit dem Vorleben bzw. den Biographien von Werken unterschiedlicher künstlerischer und wissenschaftlicher Disziplinen.
Besonderes Augenmerk wird dabei auf das Zusammenspiel von Materialität und Ideenfindung, auf die Werkzeuge gelegt: Welche Rolle spielen die physischen Elemente wie Schreibunterlagen, Utensilien, digitale Tools oder die Körper der AutorInnen, also jene Alltagsdinge, die wesentlich an der Entstehung von Werken beteiligt sind?
Über das Werden eigener oder fremder Werke referieren: Walter Pamminger, Hermann Czech, Sibylle Lewitscharoff, Gottfried Hinker, Sophia Panteliadou, August Ruhs, Thomas Hensel, Walter Seitter, Benjamin Meyer-Krahmer und Michel Guérin.

Links:
Infos hier

TERMINSACHE NR. 1: Tagung "Wie wohnen?"


Im Rahmen der Ausstellung „Werkbundsiedlung Wien 1932 – Ein Manifest des Neuen Wohnens“ (Wien Museum Karlsplatz, bis 13. Jänner 2013) findet in Kooperation mit der Universität Bremen von 29. bis 30. November 2012 eine Tagung zum Thema „Wie Wohnen? Beziehungen zwischen Wohnmodellen, Vorbildern und BewohnerInnen“ statt.
Eine Auswahl der geplanten Referate:
Kathrin Heinz: „wohnen+/-ausstellen“ als Forschungsfeld
Andreas Nierhaus: Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“
Eva-Maria Orosz: Historische Wohnräume im Wien Museum
Johanna Hartmann: Möbel, Pläne, Körper
Greg Castillo: Cold War on the Home Front
Doris Guth: Wohnen und lieben!

Dienstag, 20. November 2012

DRUCKSACHE NR. 3: Anke te Heesen - "Theorien des Museums"






Museen sind Speicher- und Präsentationsorte von materiellen Sachzeugen – ihre seit Jahren anhaltende Konjunktur schlägt sich inzwischen auch in einer verstärkten wissenschaftlichen Aufmerksamkeit dieser Institution gegenüber nieder.

Eine kompakte Einführung zu Theorien des Museums legt nun Anke te Heesen, Professorin für Wissenschaftsgeschichte am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, vor. Museumsbegriffe werden ebenso erörtert wie die wichtigsten theoretischen Annäherungen an das Phänomen Museum vor dem Hintergrund der historischen Etappen der Sammlungs- und Museumsgeschichte seit der Renaissance.
Anke te Heesen geht es dabei nicht um eine Erklärung des Museums aus dem Geist der Museologie oder der Museumswissenschaft, sie will keine Praxisfragen beantworten und keine Anleitungen geben. Ihr Interesse richtet sich vielmehr auf die sich historisch wandelnden theoretischen Konzepte des Museums. 


Geleitet werden ihre Ausführungen von der zentralen These, dass das Museum und die Ausstellung zwei verschiedene Präsentationsweisen sind, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen gefunden haben. Dass es sich dabei um keine neue Erkenntnis handelt, ist klar. Dennoch macht es Sinn, diese Unterscheidung konsequent in den Fokus der historischen Betrachtung zu bringen, denn sie kann keineswegs als allgemein bekannt bzw. reflektiert vorausgesetzt werden.Ebenso verdienstvoll ist der Verzicht darauf, das Kunstmuseum als gleichsam kanonisch gewordene Museumsgattung ins Zentrum der Betrachtung zu stellen, sondern statt dessen stets die Vielzahl unterschiedlicher Museumsgattungen im Auge zu behalten.

Hervorzuheben ist weiters, dass sich ein eigenes Kapitel auch mit Kritik am Museum beschäftigt. Zur Sprache kommen hier etwa Friedrich Nietzsches Überlegungen zum antiquarischen Geschichtsverständnis, das sich in einer „Sammelwuth“ äußere, die dazu führe, dass das Vergangene wie eine „bunte Jagdbeute“ in den Museen ausgestellt liege und durch die Überfülle an Geschichte, Details und Objekten den Betrachter zum Müßiggänger und reinen Zuschauer mache.
Abgerundet wird der Nutzwert dieser Einführung durch eine knapp gehaltene kommentierte Auswahlbibliografie und eine umfangreichere Literaturliste.


Anke te Heesen: Theorien des Museums zur Einführung. Hamburg 2012 (Junius Verlag, 219 Seiten, € 15,40,-).
 

Montag, 19. November 2012

HÖRSACHE NR. 4: Die Banane - Nahrungsmittel und Kultobjekt


Werbeanzeige, 1927 (Archiv Susanne Breuss)


1928 kam der erst wenige Jahre zuvor berühmt gewordene Tanz- und Gesangstar Josephine Baker für ein von Moral- und Sittenwächtern beinahe verhindertes und skandalumwittertes Gastspiel nach Wien. Zu Bakers Markenzeichen zählte nicht nur die als „wild“ und akrobatisch empfundene Tanzkunst, sondern auch ihr freizügiges Outfit. Insbesondere das Bananenröckchen, das sie beim „Bananentanz“ trug, erlangte Kultstatus.
Bananen waren damals in unseren Breitengraden zwar nicht mehr völlig neu, doch nun traten die ehemaligen Luxusfrüchte erstmals in den Konsumhorizont breiterer Bevölkerungsschichten. Technische Neuerungen in der Schifffahrt und ausgeklügelte moderne Transport-, Lager- und Logistiksysteme machten die empfindliche Frucht aus den tropischen und subtropischen Weltregionen nun auch in Europa zu einem immer alltäglicher werdenden Nahrungsmittel. Billig war sie allerdings noch immer nicht, weshalb sie in der Regel pro Stück verkauft wurde.

Die Importeure und Händler starteten einen wahren Werbefeldzug, um die Banane auch in Österreich, einem Land der „schlechten Obstesser“, zu einem Volksnahrungsmittel zu machen (was im eigentlichen Sinn dann aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelingen sollte). Unterstützt wurden sie dabei von Ärzten und Ernährungsexperten, die den gesundheitlichen Wert der leicht verdaulichen und sättigenden Banane hervorhoben. Außerdem galt die Banane wegen ihrer dicken Schale als hygienisch.
Der Verzehr von Obst wurde in diesen Jahren ganz allgemein stark propagiert. Wenige Jahre zuvor waren die Vitamine entdeckt worden, was zu einer Neubewertung von Obst führte, dem früher keine ernährungsphysiologische Bedeutung beigemessen wurde.
Darüber hinaus spielte die gelbe Frucht nicht zuletzt durch Josephine Baker, aber auch durch den beliebten Schlager „Ausgerechnet Bananen“ oder die zahlreich auf den Markt gebrachten Scherzpostkarten mit mehr oder weniger frivolen Bananenmotiven eine wichtige Rolle in der Populärkultur. Baker war angeblich übrigens ein großer Fan der Schoko-Bananen von Casali, und sie fand die völlig ungeniert in der Diktion der Zeit als „Nigger-Weichseln“ bezeichneten Pralinen der selben Wiener Firma „wirklich ausgezeichnet“.



Reklamefigur für Bananen, 1928
Foto: © Wien Museum

Radiosendung:
Seit September 2012 sendet Ö1 im Rahmen von Leporello die von Wolfgang Popp in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum und dem Technischen Museum Wien gestaltete Jahres-Serie „Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte“, in der ausgewählte Alltagsdinge aus den Sammlungen der beiden Museen porträtiert werden.  
http://oe1.orf.at/artikel/321703
Heute ging es in der Sendung um die Banane und eine Bananen-Werbefigur aus dem Jahr 1928 (Interview mit Susanne Breuss).

Texte:
Susanne Breuss: Exotische oder frivole Bananenmetaphorik? In: Wiener Zeitung Extra, 1.4.2006, S. 2.
Susanne Breuss: Banane. In: Wolfgang Kos (Hg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930. Ausstellungskatalog. Wien 2010. S. 563.

Sonntag, 18. November 2012

FOTOSACHE NR. 1: Ein unentbehrlicher kleiner Kasten


©  Archiv Susanne Breuss

Eine Amateuraufnahme aus den späten 1930er Jahren: Drei Frauen bewundern einen kleinen Kasten – es handelt sich um ein Radiogerät der Firma Philips, und zwar um das Modell Prélude aus der Symphonischen Serie. Vermutlich erfreuen sie sich gerade an einer Neuanschaffung, auf den Markt kam diese Type 1936/1937 und sie war insofern etwas besonderes, als sie an der Oberseite des Holzgehäuses ein aufklappbares Senderfenster aus Bakelit besaß.
  
Das Zeitalter des Radios begann in den 1920er Jahren, in Österreich 1924, als die RAVAG (Radio-Verkehrs-AG) ihren offiziellen Sendebetrieb aufnahm. Bertolt Brecht gab zwar zu bedenken, dass die Öffentlichkeit nicht auf den Rundfunk gewartet habe, sondern der Rundfunk auf die Öffentlichkeit. Aber trotz ernst zu nehmender Konkurrenz seitens der bereits existierenden und sehr populären Informations- und Unterhaltungsmedien wie Grammophon, Kinofilm, Tageszeitung und Illustrierter, entwickelte sich das Radio erstaunlich schnell zu einem stark nachgefragten technischen Konsumgut. Mit seinem ausdifferenzierten Programmangebot hielt der Hörfunk für alle Interessen etwas bereit und er diente aufgrund seiner technischen Möglichkeiten als „Hörfenster“ zum Weltgeschehen.
Kein Wunder also, dass dieses Gerät, das Fortschrittlichkeit und Modernität verkörperte, auch für Brecht zu einem wichtigen Begleiter wurde. In seinem im Exil entstandenen Gedicht „Auf den kleinen Radioapparat“ beschwor er den Kasten, den er „flüchtend trug“, nur ja „nicht auf einmal stumm zu sein!“

Text:
Susanne Breuss: Beschwörung eines Kastens (= Fotoglosse schwarz & weiß). In: Wiener Zeitung Extra, 17.11.2012, S. 43.  

Donnerstag, 15. November 2012

SACHVERHALT NR. 1: Vegetarische Schnitzel


Sellerieschnitzel, Rezeptillustration, um 1930 (Archiv Susanne Breuss)

Auf dem Cover der Wiener Stadtzeitung Falter prangen diese Woche Paprika-, Avocado- und Rotkrautscheiben, dazwischen die erstaunlichen Schlagzeilen: „Wien wird vegan“ und „Wie sich Wien zur Hauptstadt der Fleischlosigkeit mauserte“. 

Ausgerechnet Wien! Bisher war diese Stadt für ihren ausgeprägten Fleischhunger bekannt, und in der nach wie vor sehr präsenten traditionellen Wiener Küche spielte das Gemüse, sofern es sich überhaupt auf den Teller verirrte, meist gut getarnt hinter Panier, Einbrenn und Co. „Versteckerln“. Gerichten wie Schnitzel, Gulasch oder Tafelspitz kam hingegen gleichsam der Status von Denkmälern zu. Vor kurzem noch hätte wohl kaum jemand angenommen, dass es in Wien einmal einen Hype um vegetarische oder sogar vegane Küche geben könnte.

Blickt man allerdings etwas weiter zurück in die Vergangenheit, stellt man überrascht fest, dass es in Wien bereits im 19. Jahrhundert Gegenströmungen und Alternativen zur karnivoren Esskultur gegeben hat. In einer Zeit, in der in den mittleren und gehobenen städtischen Bevölkerungsschichten der Fleischgenuss zum zentralen Element der Esskultur geworden war, gab es – teilweise ausgerechnet an Adressen wie Wildpretmarkt oder Fleischmarkt – auch rein vegetarische Gaststätten. Wien war sogar jene Stadt, in der 1877 das erste vegetarische Restaurant des deutschen Sprachraums eröffnete. Hier trafen sich künftige Geistes- und Kulturgrößen wie Gustav Mahler, Hugo Wolf und Viktor Adler zu fleischlosen Stammtischrunden und Diskussionen über die „Greuel blutbefleckter Nahrung“ oder das Potential des Vegetarismus im Hinblick auf Frieden und Völkerversöhnung.

Um die Jahrhundertwende existierte im Kontext der Lebensreformbewegung sogar eine recht lebendige vegetarische Gastronomieszene, die über die Stadtgrenzen hinaus einen guten Ruf besaß – es hieß sogar: „Man schicke Lernende nach Wien.“ Der Fleischkonsum wurde wie der Alkoholkonsum als Quelle zahlreicher zivilisatorischer Übel betrachtet. Die Motivationen, sich fleischlos zu ernähren, waren damals ebenso wie heute sehr unterschiedlich. Ethisch-religiöse, gesundheitliche und hygienische Argumente spielten eine Rolle, aber auch ökonomische oder ästhetische.

Und was aßen diese frühen Vegetarier? Natürlich Schnitzel, und zwar in zahlreichen Varianten: Sellerieschnitzel, Gemüseschnitzel, Spinatschnitzel, Linsenschnitzel, Grünkernschnitzel und ähnliches mehr. Außerdem fleischlose Koteletts und Braten aus Hülsenfrüchten, Nüssen und Getreide, verschiedenste Gemüse- und Pilzgerichte, und zum Dessert gab es neben den Klassikern der Wiener Küche wie Milchrahmstrudel oder Sachertorte auch Grahamtorte, Früchtepudding und getrocknete Feigen oder Datteln. Obst spielte in der vegetarischen Ernährung überhaupt eine wichtige Rolle, was insofern bemerkenswert ist, als ihm die damalige Ernährungswissenschaft keine gesundheitliche Bedeutung zumaß. Getrunken wurde Wasser, Kräutertee, Malzkaffee, Milch oder unvergorener Obstsaft, dem Alkohol ging man wie dem Nikotin aus dem Weg (was „rauchfreie Localitäten“ garantierte).
 

Texte:
Nina Horaczek: Alles dreht sich ums Gemüse. Chic statt öko: wie sich Wien still und heimlich zur europäischen Hauptstadt der Vegetarier mausert. In: Falter, Nr. 46, 14.11.2012. S. 39-42.
Susanne Breuss: Fleischhunger und Sodawasserlaune. Konkurrierende Esskulturen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Ulrike Spring/Wolfgang Kos/Wolfgang Freitag (Hg.): Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit. Wien 2007. S. 170-179.
Susanne Breuss: Fleischlos in eine bessere Welt. Vor 130 Jahren eröffnete in Wien das erste vegetarische Speiselokal des deutschen Sprachraums. In: Wiener Zeitung Extra, 17.8.2007.

Mittwoch, 14. November 2012

DRUCKSACHE NR. 2: Trafik - Ort der zahllosen Dinge


Abb. aus dem besprochenen Buch, S. 239


Rauchwaren, Aschenbecher, Feuerzeuge, Zeitungen, Magazine, Parkscheine, Ansichts-, Glückwunsch- und Beileidskarten, Lose, Fahrscheine, Briefmarken, Taschentücher, Schreibwaren, Spielkarten, Gebührenwertzeichen – dies alles und viel mehr zählt (oder zählte) zum Angebot einer typischen Trafik. Dazu kommt noch das immaterielle Angebot – Tratsch, Neuigkeiten, soziale Ansprache. „In der Trafik gibt’s alles“, behauptete die Tabak-Presse 1982. 

Die Trafik und die an diesem – typisch österreichischen – Ort versammelte, nahezu unübersehbare Vielzahl von Dingen, deren Heterogenität und deren Einbettung in ein komplexes soziales Setting war auch der programmatische Bezugspunkt für ein kulturwissenschaftliches Veranstaltungsformat: TRAFIK. Wiener Arbeitsgespräche zur Kulturwissenschaft.
Die TrafikantInnen Thomas Brandstetter, Karin Harrasser, Benjamin Steininger und Christina Wessely beschreiben ihr Projekt in ihrem Aufsatz „Durch die Dinge denken. Eine TRAFIK zu Gast in Weimar“, erschienen in:
Friedrich Balke/ Maria Muhle/ Antonia von Schöning (Hg.): Die Wiederkehr der Dinge. Berlin (Kulturverlag Kadmos) 2011. 
Der Band enthält folgende Kapitel: Handlungsmacht der Dinge, Ein neuer Begriff des Sozialen, Epistemologie der Dinge, Medienästhetik der Dinge, mit insgesamt 20 Beiträgen.    



Montag, 12. November 2012

HÖRSACHE NR. 3: Die Puderdose als Instrument der Selbstkontrolle



Werbeanzeige für Gesichtspuder, 1924 (Archiv Susanne Breuss)

In den 1920er Jahren avancierte die Puderdose zu einem wichtigen Schönheits- und Modeaccessoire. Das Pudern des Gesichts (vor allem, um den Teint heller und matter erscheinen zu lassen) war zwar schon lange üblich, doch geschah es meist im Verborgenen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden viele frühere „Schönheitsgeheimnisse“ nüchterner betrachtet, denn die veränderte soziale Rolle der Frauen brachte neue Verhaltensnormen mit sich.
Dekorative Kosmetik wurde zu einem Massenphänomen, das Schminken verlor seinen moralisch negativ besetzten Nimbus. Nicht mehr Natürlichkeit pur war nun das Ideal (wie im bürgerlichen 19. Jahrhundert, als man sich vom „dekadenten“ Adel abgrenzen wollte), sondern gepflegtes und attraktives Aussehen – und es war klar (und wurde öffentlich erörtert), dass dieses mit Hilfe aller möglichen Mittel und Methoden erst „hergestellt“ werden musste.
Die Puderdose wurde nicht nur zum ständigen Begleiter vieler Frauen, sondern geradezu zum Symbol dieses neuen Verständnisses von Schönheitspflege. Um den Massenmarkt zu bedienen, gab es sie nun auch preisgünstig aus hübsch gestaltetem Karton. Die teureren Versionen aus Metall lebten vor allem als Handtaschenmodelle fort. Mit ihrem Innenspiegel waren sie ein wichtiges Kontrollinstrument: Überall und jederzeit konnte so das Aussehen überprüft und bei Bedarf korrigiert werden. Um 1930, mit zunehmender Arbeitslosigkeit und verstärktem Konkurrenzdruck, wurde die Selbstoptimierung zum Gebot der Stunde – das betonten nicht nur Frauenzeitschriften und Schönheitsratgeber, sondern auch die Autoren soziologischer Studien.


Puderdose, 1927
Foto: © Wien Museum


Radiosendung:
Seit September 2012 sendet Ö1 im Rahmen von Leporello die von Wolfgang Popp in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum und dem Technischen Museum Wien gestaltete Jahres-Serie „Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte“, in der ausgewählte Alltagsdinge aus den Sammlungen der beiden Museen porträtiert werden. 
Heute ging es in der Sendung um eine Puderdose aus dem Jahr 1927 (Interview mit Susanne Breuss).  

Text:
Susanne Breuss: Inszenierungen des modernen Körpers. Mode, Konsum und Geschlecht um 1930. In: Wolfgang Kos (Hg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930. Ausstellungskatalog. Wien 2010. S. 168-176.



Werbeanzeige für Coty Doppel Compact Puder und Schminke, 1928
 (Archiv Susanne Breuss)




Samstag, 10. November 2012

ANSICHTSSACHE NR. 3: Trude Lukacsek fotografiert Park-Equipment


 © Trude Lukacsek


© Trude Lukacsek



Trude Lukacsek ist eine Wiener Fotografin mit einem sehr genauen Blick für die Dinge des Alltags, die ihr auf ihren Reisen und Stadtwanderungen begegnen – mit einer besonderen Vorliebe für vergessene, entschwindende, versteckte oder auf den ersten Blick eher unscheinbare Phänomene gegenwärtigen und historischen Alltagslebens. Mit ihrer Kamera porträtiert sie zum Beispiel Geschäftsschilder, Warenarrangements und Schaufensterfiguren in Auslagen, Strandhäuschen oder die Ausstattung von Vergnügungsparks. Es geht ihr dabei auch um das Eigenleben der Dinge, um deren Formen, Farben und Texturen, um die Spuren, die der Lauf der Zeit an ihnen hinterlässt, zum Beispiel durch Abnützung oder Verwitterung.

Im Rahmen von EYES ON – Monat der Fotografie Wien 2012 zeigt sie in ihrer Ausstellung „PARKS – Exterior Equipment“ (Hofmobiliendepot – Möbelmuseum Wien, bis 2.12.2012) eine Auswahl ihrer Fotografien von Park-Möblierungen. 

Für diesen Blog beschreibt Trude Lukacsek ihr Interesse an den Park-Objekten:
„In der Ausstellung PARKS – Exterior Equipment zeige ich Fotografien von Mobiliar in Parks. Auf meinen Reisen in Europa oder meinen Spaziergängen durch Wien interessieren mich immer wieder diese Flächen, in der Mitte oder am Rande der Stadt, manchmal riesige Parklandschaften, dann wieder kleine Zwischenräume in bebauten Gebieten. Manchmal minutiös geplant, dann wieder wie zufällig entstanden, aber doch gestaltet. Da gibt es dann dieses große oder kleine Stück Natur und darauf das eine und andere Objekt. 
Ich fotografiere diese Dinge ohne die Menschen, die sie nützen, und manchmal scheint es mir, als würden diese Objekte, so allein gelassen auf weiter Flur, ein Eigenleben entfalten. Plötzlich sind es nur mehr Kugeln, Würfel, Kreise, Linien, die manchmal etwas Rätselhaftes an sich haben. Geformte Dinge, die wie Landmarks den Raum strukturieren. So wie diese Klettergerüste in einer Parklandschaft am Ufer des tschechischen Thaya-Stausees bei Vranov. Mobiliar auf der Wiese, das auf seine Nutzer, die Kinder, wartet. 
Die blaue Bank steht im Sorrento Park in Dalkey, einem Vorort von Dublin/ Irland. Der Sorrento Park ist ein sehr kleiner Park an einem Abhang zum Meer. Die Bank ist in blau-métallisé gestrichen und hat eine für eine Parkbank sehr ausgefallene Form. Sie wirkt fast wie ein gezackter Pfeil, der zum Meer weist. Sie bietet die Möglichkeit, von verschiedenen Positionen aus, das Meer und die Umgebung zu betrachten. Allein, zu zweit, zu dritt, zu viert. Was mich an dieser Bank interessiert, ist ihre unbekannte Geschichte und ihr unbekannter Gestalter. Es hat sich jemand diese besondere Form ausgedacht und an dieser unspektakulären und gleichzeitig spektakulären Stelle angebracht. Vom Design her würde ich sie in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts situieren. Und offenbar gibt es auch heute jemanden, der sich um den Erhalt der Bank kümmert. Als ich sie fotografierte, war sie vor kurzem frisch gestrichen worden. Es waren noch Spuren von Lack am Boden zu sehen. Die blaue Bank stand schon vor langem und steht noch heute bereit für jene, die rastend den Blick zum Meer genießen wollen.“ 

Links:

Text:
Susanne Breuss: Die Faszination der Schaufenster. Die Wiener Fotografin Trude Lukacsek hat ein Faible für Auslagen und Alltagsgegenstände. In: Wiener Zeitung Extra, 12.11.2010.

Freitag, 9. November 2012

ANSICHTSSACHE NR. 2: Ein Staubsauger als Raumschiff


Staubsauger, Sammlung Museum der Dinge, Foto: Armin Herrmann


Noch ein Staubsauger: dieses mal das Modell "Super" von Siemens, ausgewählt als Ding des Monats November 2012 im Werkbundarchiv - Museum der Dinge in Berlin.
Es handelt sich dabei um eines der Exponate in der Sonderausstellung "Im Inneren der Apparate. Objekte von Matias Bechtold und Dinge aus den Sammlungen des Museums" (17.11.2012 bis 18.2.2013), in der es um künstlerisch umgedeutete Innenräume von Geräten geht. Den Staubsauger "Super" sieht der Künstler und Modellbauer Bechtold als Raumschiff!

Links:
http://www.museumderdinge.de/stand_der_dinge/ding_des_monats/
http://www.museumderdinge.de/programm/kommende_ausstellungen/
http://matias-bechtold.de/

Montag, 5. November 2012

HÖRSACHE NR. 2: Staubsauger - Moderne Vampire und Kobolde

Werbeanzeige für den AEG-Staubsauger "Vampyr", 1927 
(Archiv Susanne Breuss)

In den 1920er Jahren kamen die ersten massentauglichen elektrischen Staubsauger auf den Markt, die bequem von einer Person bedient werden konnten (die zuvor entwickelten Modelle waren meist groß, schwer, unhandlich und sehr teuer). Als Nutzerinnen dieser Geräte waren die Hausfrauen vorgesehen – eine Bevölkerungsgruppe, der man pauschal eine gewisse Scheu, wenn nicht gar Angst vor moderner Technik attestierte.

Damit sich der Staubsauger zum „besten Freund der Hausfrau“, so ein zeitgenössischer Haushaltsratgeber, entwickeln konnte, wurden nicht nur seine hygienischen und die Arbeit erleichternden Vorteile gegenüber den traditionellen Formen der Staubbekämpfung mit Hilfe von Besen, Tüchern und Teppichklopfern hervorgehoben. Eine verbreitete Strategie, dieses neue Gerät an die Frau zu bringen, war auch der Einsatz von Begriffen und Bildern, die den Staubsauger als Lebewesen darstellten.

So erschien der Staubsauger als ein „arbeitendes“, „fleißiges“, „tüchtiges“, „unermüdliches“, „hilfsbereites“, „treues“ und „braves“, somit als eine Art tugendhaft handelndes Subjekt, ausgestattet mit „Organen“, „Magen“, „Wanst“ und „Mundstück“, mit denen er den Staub „saugt“, „schluckt“, „verschlingt“ und „frisst“. Weiters trat er in Gestalt von treuen Dienern, guten Geistern, Zwergen, Heinzelmännchen, Kobolden und Zauberern auf. Auch der Vergleich mit der „emsigen Biene“ diente dazu, das ungewohnte technische Gerät in eine Reihe mit bekannten und anerkannten Helfern und Nützlingen des Menschen zu stellen. Um drastisch zu illustrieren, wie der Staubsauger dem Staub den Garaus macht, wurde auch zu negativ konnotierten Figuren wie Teufeln und Vampiren gegriffen, was sich nicht zuletzt bei der Namensgebung von Staubsaugermarken niederschlug.

Kobolde, Heinzelmännchen und ähnliche Gestalten zählen zu den ältesten und bekanntesten hilfreichen Wesen des Volksglaubens und der Volksmythologie. So wie die guten Hausgeister sind auch die Staubsauger fleißig, flink, gründlich, ordentlich und reinlich und sorgen für das Glück und Wohlergehen der Hausbewohner. Ebenso wie die Hausgeister müssen die Staubsauger pfleglich behandelt werden, damit sie ihr segensreiches Wirken nicht einstellen oder gar bösen Schabernack treiben – einschlägige Verweise finden sich in zeitgenössischen Quellen zuhauf.

Der direkte und häufige Bezug auf solche populäre mythische, sagen- und märchenhafte Gestalten ist als ein Mittel zu verstehen, ein neues und zuvor völlig unbekanntes technisches Gerät in einen vertrauten Kontext zu stellen und an gängige Vorstellungswelten anzuknüpfen. Sicher nicht zufällig wurde gerade für die Zielgruppe der weiblichen Technikkonsumenten auf derartige Überlieferungen zurückgegriffen, um ihr die moderne Technik nahe zu bringen: die Formulierung des weiblichen Geschlechtscharakters seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wies den Frauen u. a. Traditionsverbundenheit als wesentliche Eigenschaft zu, sie galten als die eigentlichen Trägerinnen und Bewahrerinnen traditioneller Kultur.

Zudem verweist diese Strategie auf ein den Frauen unterstelltes mangelndes Technikverständnis: anstatt die Hausfrauen mit technischen Funktionsweisen und Details vertraut zu machen, wurde Technik lieber mit Magie und Zauber in Verbindung gebracht, der Staubsauger als ein wundersames Wesen präsentiert – ohne dabei allerdings den Anteil der Herren Erfinder und Ingenieure an diesen Wundern der Technik zu verschweigen.



Radiosendung:
Seit September 2012 sendet Ö1 im Rahmen von Leporello die von Wolfgang Popp in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum und dem Technischen Museum Wien gestaltete Jahres-Serie „Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte“, in der ausgewählte Alltagsdinge aus den Sammlungen der beiden Museen porträtiert werden. 
http://oe1.orf.at/artikel/321703
Heute ging es in der Sendung um den Staubsauger "Vampyr" aus dem Jahr 1925 (Interview mit Susanne Breuss).  
http://oe1.orf.at/konsole?show=ondemand [abhörbar 7 Tage ab heute]

Texte:
Susanne Breuss: „Verliebt in einen Kobold“. Zur kulturellen Konstruktion haushaltstechnischer Konsumgüter – am Beispiel des Staubsaugers. In: Dies./Franz X. Eder (Hg.): Konsumieren in Österreich. 19. und 20. Jahrhundert. Innsbruck/Wien/Bozen 2006. S. 124-146. 
http://vgs.univie.ac.at/_TCgi_Images/vgs/20061115140923_QS21Breuss.pdf
Susanne Breuss: Wunschmaschine Staubsauger. In: Forum Ware. Internationale Zeitschrift für Warenlehre, H. 1-4/2002, S. 24-30.
Susanne Breuss: Wozu Staubsauger? Gebrauchsentwürfe und Bedeutungszuschreibungen in der Innovationsphase. In: Forum Ware. Internationale Zeitschrift für Warenlehre, H. 1-4/2003. S. 19-23.
Susanne Breuss: Siegeszug des Staubschluckers. In: Wiener Zeitung Extra, 22.6.2007.
Susanne Breuss: Die Stadt, der Staub und die Hausfrau. Zum Verhältnis von schmutziger Stadt und sauberem Heim. In: Olaf Bockhorn u. a. (Hg.): Urbane Welten. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1998 in Linz. Wien 1999. S. 353-376.

Ausstellung:
In der Dauerausstellung des Technischen Museums Wien sind in der Abteilung „Alltag – eine Gebrauchsanweisung“ zahlreiche historische Staubsaugermodelle zu sehen.

Sonntag, 4. November 2012

DRUCKSACHE NR. 1: Orhan Pamuk - Die Unschuld der Dinge






Der türkische Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat nun den Museumskatalog zu seinem 2008 erschienen Roman „Das Museum der Unschuld“ vorgelegt. Interessant ist dieser im Carl Hanser Verlag erschienene und reich illustrierte Band mit dem Titel „Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul“ auch für jene, die den Roman, in dem Alltagsdinge eine zentrale Rolle spielen, (noch) nicht gelesen haben. 

Pamuk schildert darin ausführlich, wie er vor drei Jahrzehnten die erste Idee zu Roman und Museum hatte und wie sich sein ungewöhnliches Projekt – nämlich die gleichzeitige und eng miteinander verknüpfte Schaffung sowohl eines Romans als auch einer Museumssammlung mit jenen Dingen, die im Roman vorkommen – im Lauf der Jahre entwickelte und schließlich im Frühling 2012, vier Jahre nach dem Erscheinen des Buches, auch das Museum eröffnet werden konnte. In ihm sind, in der Reihenfolge der Kapitel, die Objekte aus dem Roman zu besichtigen: teils gesammelt, teils extra angefertigt, reicht die Bandbreite vom gelben Schuh und der Jenny-Colon-Tasche aus dem zweiten Kapitel über Sammelbildchen von Fußballern und Filmschönheiten aus Kaugummipackungen bis hin zu einem Holzlineal oder Porzellanhunden und Zigarettenkippen.

Zitate:
„Die Macht der Dinge liegt in den Erinnerungen, die sie aufbewahren, und auch im Unsteten unserer Phantasie und unseres Gedächtnisses.“ (S. 206)  

„Am meisten aber faszinierte mich, wie Gegenstände, sobald sie ihrem bisherigen Bereich – Küche, Schlafzimmer – entnommen und nebeneinander ausgestellt waren, eine neue Beziehung zueinander eingingen. Ein merkwürdiges altes Foto, ein Flaschenöffner, ein Bild von einem Schiff, eine Kaffeetasse und eine Ansichtskarte gewannen als Ensemble eine neue Bedeutung, und wenn die Zusammenstellung nur sorgfältig genug geschah, so waren die Gegenstände im Museum bedeutungsvoller, als sie es im Leben je gewesen waren.“ (S. 51f)

„Die Zukunft der Museen liegt in unseren Wohnungen und Häusern.“ (S. 57)

HÖRSACHE NR. 1: Radioserie "Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte"

Seit Anfang September 2012 sendet Ö1 im Rahmen von Leporello eine neue Jahres-Serie, die sich ausgewählten Alltagsgegenständen seit 1900 widmet: "Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte", gestaltet von Wolfgang Popp, unter Mitarbeit des Wien Museums und des Technischen Museums Wien (InterviewpartnerInnen sind u.a. Susanne Breuss, Wolfgang Kos, Gerhard Milchram, Peter Payer und Christian Stadelmann).
Bisher wurden u. a. folgende Alltagsobjekte und deren Geschichten porträtiert: Aktenordner, Ballspende in Form eines Schaufensters, Ohropax, Pissoir, Wegwerf-Rasierklingen. Am Montag, den 5. November 2012 (7:52 Uhr) ist der Staubsauger "Vampyr" aus dem Jahr 1925 dran (mit Susanne Breuss).

Links:
http://oe1.orf.at/zumgreifennah
http://oe1.orf.at/artikel/316355
http://oe1.orf.at/leporello
http://www.wienmuseum.at/de/sammlungen/wien-museum-auf-oe1.html

Samstag, 3. November 2012

ANSICHTSSACHE NR. 1: Ein prominenter Küchenschrank

Erdö-Patentküchenschrank 
(Abb. aus einem Haushaltsratgeber, 1934 - Archiv Susanne Breuss): 
sein modernes, sachliches Design wird dem "verschnörkelten" Design
 einer traditionellen Küchenkredenz gegenüber gestellt.


„Müssen die Hausfrauen den Architekten und auch manchen Möbelerzeugern nicht dafür dankbar sein, daß sie die neuen Sachlichkeits- und Nützlichkeitsprinzipien auch in ihrer Werkstatt wirksam werden ließen und sich um deren Vervollkommnung noch weiter bemühen?“ 
Mit dieser Frage beendete die Journalistin und Vertreterin der österreichischen Frauenbewegung Gisela Urban im Jahr 1933 einen Artikel über die moderne Küche und deren Einrichtung. Illustriert war der Beitrag mit zwei Fotos von einem „Patent-Küchenschrank“ der Wiener Möbel-Firma Erdö, welche auf der Taborstraße im 2. Bezirk angesiedelt war. Dabei handelte es sich um einen kombinierten Geschirr- und Vorratsschrank, wie er damals – oft nach US-amerikanischem Vorbild – stark propagiert wurde, insbesondere für kleinere Wohnungen, die über keine eigene Speisekammer verfügten.

Die Erdö-Küchenschränke waren in den Jahren um 1930 so etwas wie die Wiener Stars unter den neuen, nach rationellen und hygienischen Kriterien gestalteten Küchenmöbeln: „Glatt, ohne staubfangenden Zierat, mit Schwenktüren versehen und praktisch eingerichtet – das ist der moderne Küchenschrank“, brachte es ein Haushaltsratgeber auf den Punkt. Ihre Beliebtheit hatte vermutlich nicht zuletzt damit zu tun, dass viele Wiener Hausfrauen offensichtlich ungern von der traditionellen, für die Kleinküchen in den Neubauten allerdings zu wuchtigen Küchenkredenz lassen wollten und gewisse Vorbehalte gegenüber allzu funktionell anmutenden Einbauküchen hegten (zumal diese noch nicht als normierte Fertigmöbel auf dem Markt waren und daher individuell vom Tischler gefertigt werden mussten, was einen erheblichen Kostenaufwand bedeutete).

Die Erdö-Schränke und andere derartige „amerikanische“ Kredenzen stellten somit einen auch in finanzieller Hinsicht willkommenen Kompromiss dar, denn ihre ausgeklügelte und Platz sparende Konstruktion erlaubte eine Aufstellung auch in knapp bemessenen Küchen. Kein Wunder also, dass sie in den verschiedenen zeitgenössischen Wohn-Ausstellungen gerne als vorbildhafte Möbel gezeigt wurden – so etwa auf der Wiener Werkbundsiedlungsausstellung im Jahr 1932. Die Konzeption solcher Möbel orientierte sich vorrangig an den Bedürfnissen des dienstbotenlosen Haushalts, mit ihrer Hilfe sollte es der Hausfrau möglich sein, die Küchenarbeit kräfte- und zeitsparend zu erledigen. Nicht nur in Ausstellungen, auch in Zeitschriften und Haushaltsratgebern wurden die Erdö-Schränke und ähnliche Modelle in all ihren Details ausgiebig gewürdigt. Ausschlaggebend war dabei die Erkenntnis: „es sind zumeist die tausend Kleinigkeiten des Alltags, an denen wir zermürben, die unsere Nerven zugrunde richten“, wie es ein Ratgeber formulierte.


Ausstellung:
Ein Erdö-Patentküchenschrank ist derzeit in einer Ausstellung des Wien Museums Karlsplatz zu sehen:
Werkbundsiedlung Wien 1932 – Ein Manifest des Neuen Wohnens (bis 13. Jänner 2013).
Infos hier

Texte:
Susanne Breuss: Mit allen Finessen und Apparaten. Küchen und Hauswirtschaft in der Werkbundsiedlung. In: Andreas Nierhaus u. Eva-Maria Orosz (Hg.): Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des Neuen Wohnens. Ausstellungskatalog. Salzburg/Wien 2012. S. 82-89.
Susanne Breuss: „Der Nerv der Wohnung“. Moderne Küchengestaltung im Wien der Zwischenkriegszeit. In: Wiener Zeitung Extra, 25.4.2008.
Text auf Wiener Zeitung Online hier