"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Sonntag, 18. November 2012

FOTOSACHE NR. 1: Ein unentbehrlicher kleiner Kasten


©  Archiv Susanne Breuss

Eine Amateuraufnahme aus den späten 1930er Jahren: Drei Frauen bewundern einen kleinen Kasten – es handelt sich um ein Radiogerät der Firma Philips, und zwar um das Modell Prélude aus der Symphonischen Serie. Vermutlich erfreuen sie sich gerade an einer Neuanschaffung, auf den Markt kam diese Type 1936/1937 und sie war insofern etwas besonderes, als sie an der Oberseite des Holzgehäuses ein aufklappbares Senderfenster aus Bakelit besaß.
  
Das Zeitalter des Radios begann in den 1920er Jahren, in Österreich 1924, als die RAVAG (Radio-Verkehrs-AG) ihren offiziellen Sendebetrieb aufnahm. Bertolt Brecht gab zwar zu bedenken, dass die Öffentlichkeit nicht auf den Rundfunk gewartet habe, sondern der Rundfunk auf die Öffentlichkeit. Aber trotz ernst zu nehmender Konkurrenz seitens der bereits existierenden und sehr populären Informations- und Unterhaltungsmedien wie Grammophon, Kinofilm, Tageszeitung und Illustrierter, entwickelte sich das Radio erstaunlich schnell zu einem stark nachgefragten technischen Konsumgut. Mit seinem ausdifferenzierten Programmangebot hielt der Hörfunk für alle Interessen etwas bereit und er diente aufgrund seiner technischen Möglichkeiten als „Hörfenster“ zum Weltgeschehen.
Kein Wunder also, dass dieses Gerät, das Fortschrittlichkeit und Modernität verkörperte, auch für Brecht zu einem wichtigen Begleiter wurde. In seinem im Exil entstandenen Gedicht „Auf den kleinen Radioapparat“ beschwor er den Kasten, den er „flüchtend trug“, nur ja „nicht auf einmal stumm zu sein!“

Text:
Susanne Breuss: Beschwörung eines Kastens (= Fotoglosse schwarz & weiß). In: Wiener Zeitung Extra, 17.11.2012, S. 43.  

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