"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Donnerstag, 15. November 2012

SACHVERHALT NR. 1: Vegetarische Schnitzel


Sellerieschnitzel, Rezeptillustration, um 1930 (Archiv Susanne Breuss)

Auf dem Cover der Wiener Stadtzeitung Falter prangen diese Woche Paprika-, Avocado- und Rotkrautscheiben, dazwischen die erstaunlichen Schlagzeilen: „Wien wird vegan“ und „Wie sich Wien zur Hauptstadt der Fleischlosigkeit mauserte“. 

Ausgerechnet Wien! Bisher war diese Stadt für ihren ausgeprägten Fleischhunger bekannt, und in der nach wie vor sehr präsenten traditionellen Wiener Küche spielte das Gemüse, sofern es sich überhaupt auf den Teller verirrte, meist gut getarnt hinter Panier, Einbrenn und Co. „Versteckerln“. Gerichten wie Schnitzel, Gulasch oder Tafelspitz kam hingegen gleichsam der Status von Denkmälern zu. Vor kurzem noch hätte wohl kaum jemand angenommen, dass es in Wien einmal einen Hype um vegetarische oder sogar vegane Küche geben könnte.

Blickt man allerdings etwas weiter zurück in die Vergangenheit, stellt man überrascht fest, dass es in Wien bereits im 19. Jahrhundert Gegenströmungen und Alternativen zur karnivoren Esskultur gegeben hat. In einer Zeit, in der in den mittleren und gehobenen städtischen Bevölkerungsschichten der Fleischgenuss zum zentralen Element der Esskultur geworden war, gab es – teilweise ausgerechnet an Adressen wie Wildpretmarkt oder Fleischmarkt – auch rein vegetarische Gaststätten. Wien war sogar jene Stadt, in der 1877 das erste vegetarische Restaurant des deutschen Sprachraums eröffnete. Hier trafen sich künftige Geistes- und Kulturgrößen wie Gustav Mahler, Hugo Wolf und Viktor Adler zu fleischlosen Stammtischrunden und Diskussionen über die „Greuel blutbefleckter Nahrung“ oder das Potential des Vegetarismus im Hinblick auf Frieden und Völkerversöhnung.

Um die Jahrhundertwende existierte im Kontext der Lebensreformbewegung sogar eine recht lebendige vegetarische Gastronomieszene, die über die Stadtgrenzen hinaus einen guten Ruf besaß – es hieß sogar: „Man schicke Lernende nach Wien.“ Der Fleischkonsum wurde wie der Alkoholkonsum als Quelle zahlreicher zivilisatorischer Übel betrachtet. Die Motivationen, sich fleischlos zu ernähren, waren damals ebenso wie heute sehr unterschiedlich. Ethisch-religiöse, gesundheitliche und hygienische Argumente spielten eine Rolle, aber auch ökonomische oder ästhetische.

Und was aßen diese frühen Vegetarier? Natürlich Schnitzel, und zwar in zahlreichen Varianten: Sellerieschnitzel, Gemüseschnitzel, Spinatschnitzel, Linsenschnitzel, Grünkernschnitzel und ähnliches mehr. Außerdem fleischlose Koteletts und Braten aus Hülsenfrüchten, Nüssen und Getreide, verschiedenste Gemüse- und Pilzgerichte, und zum Dessert gab es neben den Klassikern der Wiener Küche wie Milchrahmstrudel oder Sachertorte auch Grahamtorte, Früchtepudding und getrocknete Feigen oder Datteln. Obst spielte in der vegetarischen Ernährung überhaupt eine wichtige Rolle, was insofern bemerkenswert ist, als ihm die damalige Ernährungswissenschaft keine gesundheitliche Bedeutung zumaß. Getrunken wurde Wasser, Kräutertee, Malzkaffee, Milch oder unvergorener Obstsaft, dem Alkohol ging man wie dem Nikotin aus dem Weg (was „rauchfreie Localitäten“ garantierte).
 

Texte:
Nina Horaczek: Alles dreht sich ums Gemüse. Chic statt öko: wie sich Wien still und heimlich zur europäischen Hauptstadt der Vegetarier mausert. In: Falter, Nr. 46, 14.11.2012. S. 39-42.
Susanne Breuss: Fleischhunger und Sodawasserlaune. Konkurrierende Esskulturen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Ulrike Spring/Wolfgang Kos/Wolfgang Freitag (Hg.): Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit. Wien 2007. S. 170-179.
Susanne Breuss: Fleischlos in eine bessere Welt. Vor 130 Jahren eröffnete in Wien das erste vegetarische Speiselokal des deutschen Sprachraums. In: Wiener Zeitung Extra, 17.8.2007.

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