"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Freitag, 28. Juni 2013

FOTOSACHE NR. 17: Koffer auf Reisen


Mit leichtem Gepäck am Wiener Westbahnhof, 1962
(Anonyme Fotografie © Archiv Susanne Breuss)


Zum Beginn der Hauptreisesaison eine alte Fotoglosse von mir über den Koffer:

Der Koffer ist nicht nur die „unangefochtene Hauptfigur der Kunst des Reisens“, wie der Reiseforscher Attilo Brilli schreibt, er ist auch ein Symbol für die Beschwerlichkeit des Reisens. Das Schleppen der Koffer – denn nicht für jeden stehen Kofferträger bereit – ist dabei keineswegs die einzige Mühsal. Endlos sind etwa die Klagen über Koffer, die sich wegen Überfüllung nicht mehr schließen lassen oder nach dem Öffnen und Durchwühlen wie ein Germteig aufgegangen sind, wie der Schriftsteller Ryszard Kapuscinski so treffend anmerkte. Zu volle Koffer, zu schwere Koffer, irregeleitete Koffer, verloren gegangene Koffer, gestohlene Koffer, verwechselte Koffer, beschädigte Koffer - die Liste der Unannehmlichkeiten, die einem ein Koffer auf Reisen bescheren kann, ist lang.
Reisende mit leichtem Gepäck – das sind immer die anderen: jene vernünftigen Menschen, die all die guten Ratschläge beherzigen und tatsächlich nur das Notwendigste einpacken. Natürlich gibt es auch Stars und Diven, die für ihre riesigen Koffer und zahlreichen Gepäckstücke berühmt geworden sind. So formten nicht zuletzt ihre überdimensionalen Schrankkoffer, Schuhkoffer und eleganten Hutschachteln den Mythos der Marlene Dietrich. Menge und Größe der Reisebehältnisse markierten gleichsam die ideelle Größe ihrer Besitzerin. Nicht zufällig bezeichnete sie ihre Schrankkoffer als ihre „Elefanten“.
Im Koffer materialisiert sich nicht nur das Reisen, sondern auch die Person des Reisenden. Der Koffer repräsentiert dessen Besitz ebenso wie dessen Eigenheiten und Gewohnheiten. Exquisite Sonderanfertigungen aus wertvollen Materialien, billiger Karton oder Kunststoff, modische Farben und Muster, angeberische Aufkleber – ein Koffer ist eine Art Schaufenster der eigenen Identität.
Diese enge Bindung des Koffers an seinen Besitzer ist historisch noch relativ jung. Sie ist eine Folge der Ablöse der Kutsche durch die Eisenbahn. Mit ihr wurde eine neue Form des Reisens ermöglicht, die den Koffer zeitgleich und körpernah mit dem Reisenden transportiert. Auch der Koffer selbst veränderte sich. Der typische Kutschenkoffer war für den Außentransport und häufiges Verladen konzipiert. Er bestand aus besonders stabilen und wetterfesten Materialien. Als Bahnkoffer verwendete man große und stapelbare Koffertruhen für den Gepäckwagen. Die wesentliche Innovation bestand jedoch in der Entwicklung kleiner und leichter Handkoffer, die von einer Person getragen und ins Gepäcknetz gehievt oder unter den Sitz geschoben werden konnten. Diese Koffer erschienen als Botschafter einer autonomen und bequemen Form des Reisens, sie prägten fortan die Realität des Reisens ebenso wie dessen Bilderwelt.


Dieser Text erschien erstmals (in einer etwas kürzeren Form) als: 
Susanne Breuss: Botschafter des Reisens (= Fotoglosse "schwarz & weiß"). In: Wiener Zeitung Extra, 22. September 2007. S. 2.

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