"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Samstag, 12. Oktober 2013

FOTOSACHE NR. 21: Ein inszenierter Motorrad-Unfall



© Archiv Susanne Breuss

 

Nein, es ist kein Unfall, auch wenn die Beschriftung dieser Aufnahme genau das behauptet, und der erste flüchtige Blick zu solcher Deutung verleitet. Das Foto ist das letzte einer kleinen, im September 1933 aufgenommenen Serie, fein säuberlich in ein Album geklebt und mit Anmerkungen versehen. Die Bilder dokumentieren einen Motorradausflug zwischen Lambach und Gmunden. Die Ausflügler: vier junge Männer, zwei junge Frauen, und – stets als Schatten präsent – eine weitere fotografierende Person. Der Eindruck, den die Gruppe vermittelt: verwegen-professionell. Besonders die Frauen wirken so. Sie stecken in Ledermänteln und Stiefeln, während die Männer betont hemdsärmelig auftreten.
Diese Hemdsärmeligkeit hätte sich gerächt, wäre das, was hier zu sehen ist, tatsächlich ein Unfall gewesen. Für einen echten Unfall sind die beiden „Opfer“ jedoch all zu dekorativ drapiert, und bei jenem im Bildvordergrund meint man sogar einen Anflug von verschmitztem Grinsen zu entdecken. Was motiviert wohl dazu, für ein Erinnerungsfoto einen Unfall vorzutäuschen? Ist es purer Übermut am Ende eines schadlos überstandenen Ausflugs? Das anonyme Album gibt darüber keine Auskunft, es bleiben also nur Spekulationen. Nimmt man das heimliche Motto der Knipserfotografie – „wo fotografiert wird, ist es schön“ – ernst, so bedeutet diese Aufnahme: hier ist es schön, weil der Unfall nicht wirklich passiert ist. Fotografiert wurde eigentlich die Abwesenheit eines Unfalls.
Das Fotografieren von richtigen Unfällen hatte zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits Tradition, insbesondere im Rahmen der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Kein geringerer als der bei der Arbeiterversicherungsanstalt in Prag beschäftigte Franz Kafka konstatierte 1909: „Die photographischen Aufnahmen sollen […] nach Unfällen die charakteristische Situation festhalten, welche zum Unfall geführt hat“ - denn so könne die Erkenntnis der unfallbewirkenden Momente wesentlich gefördert werden.
Gefördert wurde durch Unfälle auch die Schaulust. Unfallorte gerieten zur Bühne für ein neugieriges Publikum, wie zahlreiche fotografische Aufnahmen aus der Frühzeit der Motorisierung bezeugen. Wenn heutzutage Unfälle als alltägliche Folgewirkungen des Massenverkehrs gelten, so war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Schrecken darüber, dass der technische Fortschritt auch massive Gefahren mit sich bringt, noch weit verbreitet. Vor allem auf dem Land war das Straßennetz den neuen, schnellen Fahrzeugen noch kaum angepasst, ebenso wenig wie das Verhalten der Menschen. Der motorisierte Städter gab damals eine beliebte Figur für Karikaturen und Witze ab: Unheil und Gefahren bringend, brach er in die ländliche Idylle ein. Die hier abgebildete Fotografie könnte auch als ein ironischer Verweis auf dieses Image gemeint sein.



Dieser Text erschien erstmals als:

Susanne Breuss: Das Spiel mit der Schaulust (= Fotoglosse schwarz & weiß). In: Wiener Zeitung Extra, 14.3.2009. S. 2.


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