"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Donnerstag, 1. Mai 2014

FOTOSACHE NR. 31: Der 1. Mai in der Straßenbahnremise


©  Archiv Susanne Breuss


„Tobt der Pöbel in den Gassen, ei mein Kind, so lass ihn schrei’n. Denn sein Lieben und sein Hassen ist verächtlich und gemein“. So reimte Hugo von Hofmannsthal zum ersten Maifeiertag im Jahr 1890. 1889 hatte der Gründungskongress der Zweiten Internationale in Paris beschlossen, den 1. Mai 1890 zum weltweiten Aktionstag für den Achtstundentag zu erklären. Für die Maikundgebungen waren außerdem die Forderung nach Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts sowie die Sicherung des Friedens zentral. 

Der 1. Mai wurde nicht nur als Festtag, sondern vor allem als Kampftag verstanden – der „Rebellensonntag“ versetzte den politischen Gegner in Schrecken. Die Bedeutung des 1. Mai liegt einerseits in dieser Dichotomie als Kampf- und Festtag, andererseits darin, dass es sich um einen genuin proletarischen Feiertag handelt, der nie in kirchlich-religiöse Bezüge eingebunden war.
Für die österreichische Sozialdemokratie spielte der 1. Mai von Anfang an eine sehr wichtige Rolle. Bereits die erste Maifeier im Jahr 1890 war ein derartiger Erfolg, dass man mit ihr die Geburt der SDAP als Massenbewegung verband. Friedrich Engels schrieb damals in der „Arbeiter-Zeitung“, dass sich Freund und Feind darüber einig wären, dass auf dem europäischen Festland Österreich, und dort speziell Wien, den Festtag des Proletariats am glänzendsten begangen hätten. 

Zum rechtlich fixierten arbeitsfreien Staatsfeiertag wurde der 1. Mai in Österreich erst 1919. Bis dahin war die Arbeitsruhe keineswegs selbstverständlich, sondern musste erkämpft werden. Besondere Bedeutung erlangte der Maifeiertag im „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit. Damals entwickelte er sich zu einem zentralen Bestandteil sozialdemokratischer Repräsentation, wurde zum sozialdemokratischen Feiertag schlechthin, auf dessen Gestaltung und Ästhetisierung man großen Wert legte. 
Die abgebildete Fotografie stammt aus den 1920er Jahren. Sie zeigt eine Wiener Straßenbahnremise mit festlich geschmückten Straßenbahnwagen und mit Girlanden umkränzten Parolen wie „Nur Menschlichkeit ist unser Will, durch Kampf erreichen wir das Ziel“. Seit 1919 war es Tradition, dass am 1. Mai auch die Straßenbahnräder bis Mittag still standen und dann der erste Zug jeder Linie im Feiertagsschmuck aus der Remise fuhr.
Die Aufnahme dürfte als Erinnerungsfoto für die Bediensteten der Verkehrsbetriebe entstanden sein. Sie fand sich in einem üblichen Familienalbum. Die Integration des 1. Mais in den Kanon wichtiger Ereignisse verdeutlicht die gelungene Etablierung des Maifeiertages als öffentlich wie privat begangenen Festtag.


Dieser Text erschien erstmals als:
Susanne Breuss: Schmuck am sozialdemokratischen Feiertag (= Fotoglosse "schwarz & weiß"). In: Wiener Zeitung Extra, 29. April 2006, S. 2.
 


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