"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Montag, 5. Mai 2014

SCHREIBSACHE NR. 4: Teilen - Praktiken der Kollektivnutzung


Call for Articles: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 2015

Teilen – Praktiken der Kollektivnutzung zwischen Subsistenz, Subversion und Solidarität 

In den letzten Jahren haben – parallel zu den krisenhaften Wirtschaftsentwicklungen in den westlichen Gesellschaften – Initiativen und Diskurse zu alternativen und gemeinschaftlich organisierten Ökonomien zugenommen. Unter dem Schlagwort „nutzen statt besitzen“ werden in vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen neue und auch bewährte Formen des Konsums und des Wirtschaftens praktiziert, die versuchen, an die Stelle der Maximen des Wachstums und des Besitzens Ideen der kollektiven Nutzung, des Teilens und Weitergebens zu setzen. Das Spektrum der hier beobachtbaren Praxisformen ist denkbar breit und reicht von subsistenzwirtschaftlichen Ökonomien über kritisch-politisch orientierte Kommunikations- und Aktionsformen bis hin zu neuen Geschäftsmodellen, die ihrerseits wieder nach Profitabilität und ökonomischem Erfolg streben. 

Die Wirtschaftsnobelpreisträgerin und Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom hatte vor über 20 Jahren postuliert, dass für eine nachhaltige Bewirtschaftung lokaler Allmenderessourcen (= Commons) organisierte lokale Kooperationen sowohl einer staatlichen Kontrolle als auch Privatisierungen strukturell überlegen sei. Die internationale kritisch geführte Diskussion zu globaler Verantwortung, Grenzen des Wachstums und nachhaltigen Strukturen der Ressourcennutzung operiert seither prominent mit dem Begriff der Commons. Es handelt sich dabei um materielle und immaterielle Güter sowie Strukturen, die ein auf die Zukunft hin orientiertes System bilden, das die Ressourcennutzungen künftiger Generationen mitbedenkt und damit für eine am Gemeinwohl orientierte Ethik ökonomischer Prozesse steht. Gleichzeitig werden in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften unter dem Topos „Tragik der Allmende“ auch die  Begrenzungen und Aporien derartiger Praxisformen diskutiert.

Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive erscheint es gewinnbringend, diese politisch und ökonomisch motivierte Diskussion an alltagsweltliches Handeln rückzubinden. Im Fach wurde vielfach auf Anknüpfungspunkte der Commons-Diskussion in der historischen Volkskunde verwiesen, die gemeinrechtliche Ressourcennutzungen der Allmende untersucht hat, wie sie in traditionalen Gesellschaften und Lebenszusammenhängen verankert waren, oder des Gemeinwerks, das sowohl die Sache als auch den Umgang mit ihr bedeutet. Commons sind heute, wo von einem ‘peak soil’ gesprochen wird, auch ein Thema der Kritik an postkolonialer Privatisierung, in Indien wie anderswo. Sie werden, wie es die beschreibende Volkskunde seit hundertfünfzig Jahren tut, zunehmend auf den Alltag und das Auskommen der Bevölkerung bezogen.

Die Österreichische Zeitschrift für Volkskunde (peer reviewed Journal) möchte das Doppelheft 3/4 im Jahr 2015 diesem thematischen Schwerpunkt widmen und lädt daher interessierte AutorInnen zu Beitragsvorschlägen ein. Der call richtet sich an KulturwissenschaftlerInnen und fragt nach theoretisch angeleiteten empirischen Erkenntnissen zu dem skizzierten Themenbereich.

Welche kulturwissenschaftlichen Gegenwartsbezüge lassen sich mit der Diskussion um die Commons herstellen? Auf der Ebene der Alltagspraktiken sind Tauschbörsen, Umsonstläden und Dumpster diving nur einige Beispiele solidarischer (kommunalistischer) Wirtschaftsformen, die zumeist von einer karitativen und an Nachhaltigkeit orientierten Sozialethik getragen werden. Auch so unterschiedliche Äußerungsformen wie freiwillige Sozialarbeit und digitaler Gemeinnutzen zeugen von kultureller und sozialer Verantwortung und einer Orientierung am Gemeinwohl mit dem Ziel, „Souveränität über die eigenen Lebensverhältnisse“ und  „Gestaltungschancen für die Zukunft“ (Dieter Kramer) zu gewinnen. Zugleich finden sich auch Praxisformen wie Gemeinschaftsgärten oder kollektive Wohnprojekte, die subsistenzwirtschaftliche Interessen mit einem gemeinschaftsbildenden, wenn nicht gar politischen Anliegen verbinden. Schließlich finden sich auch professionelle Initiativen und Geschäftsmodelle wie Car-Sharing oder Time-Sharing (Tourismus), die zwar ganz einer Profitlogik unterliegen, in der gegenwärtigen Situation aber durchaus auch an den kulturell vermittelten Wunsch der Alternative anschlussfähig sind und daher vom Gesamttrend nicht völlig abgekoppelt gedacht werden können.

Die genannten Phänomene könnten in der geplanten Schwerpunktausgabe Berücksichtigung finden. Den HerausgeberInnen geht es um eine Fokussierung alltagsweltlicher, gendergerechter akteurszentrierter und ethnografisch differenziert ausgearbeiteter Perspektiven, die sowohl historisch wie gegenwartsbezogen angelegt sein können und thematisch im oben skizzierten Sinne offen sind. Wissenschaftsgeschichtliche und historische Arbeiten sind daher ebenso willkommen wie Kulturanalysen von Gegenwartserscheinungen. 

Es wird um Abstracts im Umfang von bis zu 500 Wörtern und einige Kurzinformationen zur einreichenden Person gebeten.

Zeitplan:

Einsendeschluss Abstracts: 30. Juni 2014
Benachrichtigung über Annahme/Ablehnung des Beitrags: Anfang August 2014
Einreichung Manuskripttext durch AutorInnen:  31. Januar 2015
Februar – September 2015: ÖZV-spezifischer peer review- und Redaktionsprozess
Erscheinen der Zeitschrift im Dezember 2015

Kontakt:
Birgit Johler, birgit.johler@volkskundemuseum.at
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde
c/o Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien
http://www.volkskundemuseum.at



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