"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Samstag, 11. Mai 2013

FOTOSACHE NR. 16: Mütterlichkeit als Beruf



© Archiv Susanne Breuss


Was zeigt diese Fotografie aus den 1950er Jahren? Eine glückliche Mutter mit Kind, wie es sich gehört? Solche normativen, klischeehaften Bilder sind nicht nur in unseren Fotosammlungen, sondern auch in unseren Köpfen fest verankert. Was dieses Bild nahe zu legen scheint, wird mit dem Wissen um seinen Entstehungskontext allerdings relativiert. 
Das Foto gehört zu einer Serie von Aufnahmen, die im Garten eines Säuglingsheimes, einer Kinderklinik oder einer ähnlichen Einrichtung entstanden sind. Die Frauen auf den Fotos treten allesamt als „Mütter“ auf, nämlich als Berufsmütter. Sie pflegen und betreuen die ihnen anvertrauten Kleinkinder, weil dies ihre bezahlte Tätigkeit ist. Sie fungieren als Mutterersatz, weil die leiblichen Mütter nicht zur Verfügung stehen. Erkennbar ist die hier abgebildete Ersatzmutter als solche erst auf den zweiten Blick: sie trägt einen weißen Arbeitskittel. Der Ehering an der linken Hand weist sie als verheiratete Frau aus. Ob sie auch eigene Kinder hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls beherrscht sie offenbar das Repertoire an mütterlichen Gesten, wie das Foto beweist. 
Mütterlichkeit als Beruf – diese Vorstellung von weiblicher Erwerbstätigkeit wurzelt in der bürgerlichen Frauenbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurzelt. Gemäß jenem konservativen Emanzipationsmodell sollten bürgerliche Frauen primär ihrer weiblichen Rolle entsprechend berufstätig sein. Möglichkeiten dazu eröffneten sich auf dem Gebiet der Sozialarbeit und -reform. Der Handlungsbedarf war angesichts grassierender Industrialisierungs- und Urbanisierungsprobleme wie Armut, Wohnungsnot, Hygienemängel, Krankheit und Jugendverwahrlosung groß, zumal die traditionellen Sicherungs- und Fürsorgesysteme nicht mehr ausreichten. Im Zuge der Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung der sozialen Arbeit gewannen Frauen nun eine spezifische Bedeutung. Die ihnen aufgrund ihres Geschlechts zugesprochene „natürliche“ Fürsorglichkeit und Mütterlichkeit ließen sie für dieses  wie auch für die Krankenpflege besonders geeignet erscheinen. Mit der Professionalisierung der Mütterlichkeit – auf beruflicher wie auf ehrenamtlicher Ebene – war zudem eine Art Kulturmission verknüpft: mütterliche Wärme und Emotionalität sollten als Gegengewicht zur kapitalistischen Rationalität und als Basis sittlicher Erneuerung dienen.   

Dieser Text erschien erstmals als:
Susanne Breuss: Mütterlichkeit als Beruf (= Fotoglosse schwarz & weiß). In: Wiener Zeitung Extra, 17. Mai 2008, S. 2.
 

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