"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Dienstag, 16. April 2013

FOTOSACHE NR. 11: Lego spielen im Krankenbett



© Archiv Susanne Breuss


Passend zum neuesten Beitrag der Radioserie "Zum Greifen nah" über den Lego-Baukasten (siehe Hörsache Nr. 21) ein alter Beitrag von mir zum Thema (in einer etwas kürzeren Version erschienen zum 50-Jahr-Jubiläum von Lego 2008 in der Fotoglosse der Wiener Zeitung):

„Helmut ist krank“ lautet die rückseitige Beschriftung dieses im Oktober 1971 aufgenommenen Fotos. Der kleine Patient hängt sichtlich erschöpft und etwas fiebrig in seinen Kissen. Auf der Bettdecke liegen in Griffweite ein Teddybär, eine Cowboy-Pistole und ein Tablett mit Legosteinen. Also für alle Eventualitäten etwas: den Teddy zum Kuscheln, die Pistole für das Abenteuer und die Legosteine – ja, für was eigentlich? Legosteine sind für so vieles zu gebrauchen, sie bergen so unendlich viele Möglichkeiten, dass sie manchen als das genialste Spielzeug der Welt, ja sogar als Philosophie gelten. Die Grundidee lautet: dem Kind nicht etwas „Fertiges“ bieten, sondern ein Grundmaterial zur Schaffung eines eigenen Universums.

Vor 50 Jahren wurden die Legosteine in ihrer heutigen Form patentiert. Von einem kleinen Dorf in Dänemark aus eroberten die bunten Kunststoffsteine mit ihrem bestechend einfachen Kupplungsprinzip die Welt. Als Anfang der sechziger Jahre auch noch das Zahnrad hinzukam, wurde aus den simplen Klötzchen ein technisches Spielzeug mit einem unerschöpflichen Kreativitätspotential. Im Lauf der Jahre kamen immer mehr und immer neue Elemente dazu. Ende der sechziger Jahre zum Beispiel die LEGO Eisenbahn, Mitte der siebziger Jahre die LEGO Figuren.

Nicht nur wirtschaftlich entwickelte sich LEGO zu einem riesigen Erfolg. Das Spielzeug erlangte eine so außerordentliche Popularität, dass es nicht übertrieben erscheint, von der Generation LEGO zu sprechen. Mit LEGO wurde sogar gelernt. Im selben Jahr, in dem unsere Fotografie entstand, erschien ein an Kindergärtnerinnen, Lehrer und Eltern gerichtetes Buch mit dem Titel „Denken mit Lego“. Es enthielt vergnügliche Denkspiele für Logik und Mengenlehre, bei denen Legosteine als Material dienten.

Der kranke Helmut war 1971 noch zu klein, um mit seinen Legosteinen Mengenlehre zu üben. Was er aber sehr wohl schon beherrschte, waren die dominierenden geschlechtsspezifischen Umgangsformen mit den Klötzchen. Zwar lautete die Vorgabe des Herstellers, „gleichberechtigtes“ Spielzeug für Buben und Mädchen zu bieten, doch bis heute sind LEGO Kästen ein überwiegend „männliches“ Spielzeug geblieben. Wenn Mädchen mit Legosteinen spielen, dann machen sie dies laut Untersuchungen meist anders als Buben. Sie bauen eher Wohnhäuser und Möbel, flache und offene Gebäude. Buben interessieren sich mehr für hohe, massive und große Bauten aus möglichst vielen Steinen. Wie der hier abgebildete Helmut lieben sie hohe Türme und begeistern sich dafür, diese zum Einstürzen zu bringen. Action, Herausforderung und Experimentierfreudigkeit als männlich codierte Eigenschaften prägen ihr Spiel, so wie umgekehrt weiblich codierte Verhaltensweisen das stark sozial orientierte Spiel von Mädchen bestimmen.



Susanne Breuss: "Männliches" Spielzeug (= Fotoglosse schwarz & weiß). In: Wiener Zeitung Extra, 29.11.2008. S. 2. 

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