"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Freitag, 19. April 2013

FOTOSACHE NR. 12: Telefonieren als Attraktion


© Archiv Susanne Breuss


Eine Amateurfotografie aus dem frühen 20. Jahrhundert mit einem aus heutiger Sicht unspektakulär anmutenden Motiv: Eine Frau steht im Vorzimmer einer bürgerlichen Wohnung und telefoniert. Sie ist von hinten aufgenommen, der Blick des Fotografen ist auf die Wand neben der Eingangstür gerichtet. Dort befindet sich nicht nur das von der Frau benutzte Wandtelefon, sondern auch ein Zähler, vermutlich für Strom. An diesen Apparaten lässt sich ablesen, dass die Moderne in diese Wohnung bereits Einzug gehalten hat. Sie waren die deutlich sichtbaren Hinweise auf den technischen Fortschritt. Stromversorgung und Telephonie waren damals nicht nur neu, sondern auch teuer - und deswegen etwas Exklusives und Besonderes. Vielleicht wurde diese Szene deshalb festgehalten, denn sie war eben noch alles andere als alltäglich.

In Österreich hat das Fernsprechwesen im Jahr 1881 begonnen, als in Wien eine Konzession für die Errichtung von Telefonanlagen erteilt wurde und die erste Fernsprechvermittlungsstelle ihren Betrieb aufnahm. Im Jahr darauf stand in den Räumlichkeiten der Wiener Börse die erste öffentliche Sprechstelle zur Verfügung. Während in den Jahrzehnten um 1900 in Paris, Berlin, Rom oder Stockholm die Telefondichte schon recht beachtlich war, ging es in Wien nur langsam voran. Die zunächst ausschließlich privaten Telefonunternehmen kamen nicht allen Wünschen nach einem Anschluss nach, arbeiteten teuer und setzten zum Teil veraltete Technik ein. 1887 war das erste staatliche Telefonnetz betriebsbereit. Das Telefon wurde als öffentliches Kommunikationsmittel dem Telegraphen gleichgestellt und eng mit der Postverwaltung verknüpft. Bis 1895 konnten alle an private Telefongesellschaften erteilten Konzessionen zurückgekauft und die Netze verstaatlicht werden. Den Ausbau des Telefonnetzes behinderten jedoch noch zahlreiche Grund- und Hausbesitzer, die das Installieren von Leitungen verweigerten oder horrende finanzielle Entschädigungen dafür verlangten. Auch das komplizierte und wenig attraktive Gebührensystem sorgte für eine zögerliche Entwicklung. Um größeren Bevölkerungskreisen einen Telefonanschluss zu ermöglichen, wurden die Apparatetypen und die Gebühren vereinheitlicht und ein Gemeinschaftsanschlusssystem eingeführt. Einen wichtigen Schritt in Richtung Popularisierung der Telephonie bedeutete auch die schrittweise Automatisierung des Wählens, denn der handvermittelte Betrieb war umständlich und personalaufwändig. Das „Fräulein vom Amt“ gehörte in Österreich allerdings erst im Jahr 1972 endgültig der Vergangenheit an.

Dieser Text erschien erstmals als:
 
Susanne Breuss: Der Einzug des Telefons (= Fotoglosse schwarz & weiß). In: Wiener Zeitung Extra, 26./27.2.2011. S. 11. 


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