"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Dienstag, 9. April 2013

HÖRSACHE NR. 20: Kühlschrank


Kühlschrank

© Wien Museum


Seit September 2012 sendet Ö1 im Rahmen von "Leporello" die von Wolfgang Popp in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum und dem Technischen Museum Wien gestaltete Jahres-Serie „Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte“, in der ausgewählte Alltagsdinge aus den Sammlungen der beiden Museen porträtiert werden.
Am 8. April 2013 begab sich die Sendung in das Jahr 1964 und beschäftigte sich mit dem Kühlschrank (Interview mit mir).

1964 näherte sich die Zahl der Kühlschränke in den österreichischen Haushalten allmählich der Millionengrenze. Der Kühlschrank begann sich zu einem Alltagsgegenstand zu entwickeln, während er in den 1950er Jahren für die meisten noch ein Luxusgut war (1951 verfügten lediglich etwa 21.000 Haushalte über dieses Gerät). Insofern ist dieses eher unscheinbar wirkende Kühlgerät der Firma Bosch ein typisches Kind der Zeit: Noch kein Einbaugerät im heutigen Sinn, aber doch schon auf das Einpassen in eine durchgehende Küchenfront hin konzipiert. Wenige Jahre zuvor dominierte noch der Kühlschrank als Einzelgerät, und zwar mit allen Design-Attributen des Stars ausgestattet, der es nicht notwendig hatte, sich unauffällig und bescheiden den restlichen Küchenmöbeln anzupassen oder gar unterzuordnen, zumal ihn die Reklame als den "wichtigsten Schrank im Haus" bezeichnete. Groß, wuchtig, mit einer Front, die wie eine stolz gewölbte Brust wirkte, stromlinienförmig und mit chromblitzenden Griffen und Beschlägen ausgestattet - nicht zufällg erinnerte diese Ästhetik an das zweite Statussymbol der "Wirtschaftswunderzeit", das eigene Auto. Sobald der Kühlschrank aber zu einem normalen und selbstverständlichen Küchengerät wurde, zog er sich immer mehr in das Ensemble der Küchenmöbel und bald schon hinter die Einbauküchenfronten zurück, und wurde dadurch mehr oder weniger unsichtbar.


Der Kühlschrank revolutionierte nicht nur die Art der häuslichen Vorratshaltung, er bewirkte auch veränderte Einkaufsgewohnheiten und neue Formen der Esskultur. Leicht verderbliche Lebensmittel wie Milchprodukte oder frisches Fleisch mussten nun nicht mehr täglich in kleinen Mengen besorgt, sondern konnten in den eigenen vier Wänden vorrätig gehalten werden. Zahlreiche Lebens- und Genussmittel wie Joghurt, Kalte Platten oder Erfrischungsgetränke hielten Einzug in den täglichen Speiseplan. Frisches und Kühles kam ab den 1950er Jahren stark in Mode und stand für einen angenehmen und modernen Lebensstil. Dies bedeutete auch einen deutlichen Kontrast zu den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als die karge Ernährung von Hülsenfrüchten, Trockengemüse, Milchpulver und Lebensmittelkonserven geprägt war. Demgegenüber wirkte ein gefüllter Kühlschrank wie ein modernes Schlaraffenland. Allerdings war dieses nicht in den Wunschträumen angesiedelt, sondern buchstäblich zum Greifen nah: Der Kühlschrank als Massenkonsumgut versprach kulinarische Genüsse für jeden Tag und Teilhabe an der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft.  


Website "Zum Greifen nah"
Zum Nachhören


Mehr zum Kühlschrank und Kühlen in den Nachkriegsjahrzehnten:

Susanne Breuss: Eiskaltes Schlaraffenland. Kühltechnik, Ernährung und Konsum in der „Wirtschaftswunder“-Zeit. In: Dies. (Hg.): Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945 (= Ausstellungskatalog Wien Museum). Wien 2005. S. 96-108.

Susanne Breuss: Eiskalt genießen. Der Kühlschrank als Konsumikone der „Wirtschaftswunder“-Zeit. In: Forum Ware 35 (2007), Nr. 1-4. S. 10-13. 
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