"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Montag, 3. Dezember 2012

HÖRSACHE NR. 6: „Ultramodern“ und gegen „weichliche Stimmungen“ – Möbel aus Stahlrohr


Stahlrohrmöbel der Fa. Thonet
Abb. aus einem Wohnratgeber, 1931 (Archiv Susanne Breuss)



Seit September 2012 sendet Ö1 im Rahmen von Leporello die von Wolfgang Popp in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum und dem Technischen Museum Wien gestaltete Jahres-Serie „Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte“, in der ausgewählte Alltagsdinge aus den Sammlungen der beiden Museen porträtiert werden.
Heute begab sich die Sendung in das Jahr 1932 und ging der Frage nach, welche Bedeutung damals den als „ultramodern“ eingestuften Stahlrohrmöbeln zukam (Interview mit Susanne Breuss, „Gast“: ein aus der Grinzinger Badeanstalt stammender Freischwinger-Stahlrohrsessel aus den Sammlungen des Wien Museums).



Stahlrohrsessel, um 1930
Foto: © Wien Museum

Der Sommer 1932 bot sehr gutes Badewetter, und wie die anderen Wiener Freibäder war auch das Grinzinger Bad äußerst gut besucht. Platz nehmen konnte man dort auf sehr modern anmutenden Sesseln, nämlich auf blau lackierten Stahlrohrsesseln mit Sitzflächen und Rückenlehnen aus schlichten Holzsprossen. Das Besondere an ihnen war, dass sie lediglich zwei Beine besaßen, die am Boden in nach hinten ausragende und dort miteinander verbundene Kufen übergingen.

Einen Massenandrang erlebte im Sommer 1932 auch ein anderer Ort, an dem man solche „Freischwinger“ und andere Möbel aus Stahlrohr bestaunen konnte: Am westlichen Stadtrand Wiens wurde mit der Werkbundsiedlung die damals größte Bauausstellung Europas eröffnet. Entstanden war sie als soziale und ästhetische Utopie von einem besseren Leben aus dem Geist der Moderne. Die 70 vollständig eingerichteten Häuser sollten als Modelle für den Bau großer Siedlungen im Grünen dienen und waren damit auch eine Antwort auf das Wohnbauprogramm des Roten Wien, das vor allem auf große Wohnblocks mit begrünten Innenhöfen setzte.

Unter der Gesamtleitung des Architekten Josef Frank, der für eine undogmatische Moderne stand, reagierte die Wiener Werkbundsiedlung auf die internationale Überbetonung von Maschinenästhetik und Funktionalismus im Wohnen, indem sie Individualität und Flexibilität in den Mittelpunkt rückte.
Diesem Programm gemäß dominierten in der Wiener Werkbundsiedlung – anders als etwa 1927 auf der Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart, wo Stahlrohrmöbel erstmals einem breiten Publikum vorgestellt worden waren – zwar Holzmöbel. Dennoch waren einige der Häuser auch mit Stahlrohrmöbeln eingerichtet, so etwa jenes von Anton Brenner, einem Spezialisten für funktionelle Wohnungen auf kleinstem Raum. Stahlrohrmöbel galten für kleine Räume als ganz besonders geeignet, da sie wegen ihrer Leichtigkeit und vergleichsweise transparenten Wirkung die Räume größer erscheinen ließen.

Während die seit Mitte der 1920er Jahre entwickelten Stahlrohrmöbel für den Wohnbedarf seitens der funktionalistischen Architektur- und Designavantgarde als die modernen Möbel schlechthin galten und schnell zu Ikonen einer neuen, sachlichten Wohnkultur avancierten, entsprachen sie keineswegs dem Massengeschmack. Die Durchschnittsbevölkerung empfand sie oft als zu kalt, streng, unwohnlich und ungemütlich, kritisiert wurde gar deren „geistesarme Nüchternheit“ oder deren an „Operationssäle“ und „Skelette“ erinnernde Ästhetik.

Geschätzt wurden sie allerdings weithin für ihre praktischen Eigenschaften, denn sie waren hygienisch, leicht zu reinigen, stabil, unempfindlich und aufgrund ihres geringen Gewichts flexibel zu handhaben – alles Eigenschaften, die sie auch für den Gebrauch in Wartesälen, Arztpraxen, Büros, öffentlichen Gebäuden, Gärten oder Schwimmbädern prädestinierten. Dies waren auch jene Orte, an denen damals die meisten Menschen mit diesen gegen „weichliche Stimmungen“ antretenden Möbeln in Berührung kamen. In den eigenen vier Wänden fanden sie sich nur bei einer den neu-sachlichen Wohnkonzepten gegenüber aufgeschlossenen Minderheit.



Radiosendung:
http://oe1.orf.at/artikel/324371
http://oe1.orf.at/konsole?show=ondemand (abrufbar 7 Tage)
http://oe1.orf.at/artikel/321703.


Text:
Susanne Breuss: Neue Möbel für neue Menschen. Zur Konsum-, Alltags- und Symbolgeschichte der Stahlrohrmöbel in der Zwischenkriegszeit. In: Forum Ware. Internationale Zeitschrift für Warenlehre, H. 1-4/2008, S. 24-28.

Ausstellung:
Verschiedene Stahlrohrmöbel sind derzeit in einer Ausstellung des Wien Museums Karlsplatz zu sehen:
Werkbundsiedlung Wien 1932 – Ein Manifest des Neuen Wohnens (bis 13. Jänner 2013)

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