"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Samstag, 2. Februar 2013

DRUCKSACHE NR. 10: Maeve Brennans Beobachtungen des New Yorker Alltagslebens


"Es geht doch nichts über einen kurzen Spaziergang durch die Stadt, um uns die zufällige Natur unseres Lebens in Erinnerung zu rufen." So beginnt eine der in den 1950er und 1960er Jahren verfaßten Kolumnen über das New Yorker Alltagsleben, verfaßt von der im deutschen Sprachraum lange Zeit nahezu unbekannten Maeve Brennan. Die seit einigen Jahren zu Recht wiederentdeckte Autorin wurde 1917 in Dublin geboren und übersiedelte 1934 mit ihrer Familie in die USA, wo sie 1993 vereinsamt, verarmt und schwer krank sterben sollte. Dazwischen aber lag eine schillernde Karriere als Autorin des legendären New Yorker, für den sie neben Kolumnen auch Kurzgeschichten, Essays, Buchbesprechungen und Erinnerungen schrieb. Brennan war für ihren exzellenten Schreibstil ebenso berühmt wie für ihren scharfen Blick, ihren Witz, ihre Bissigkeit und ihre Schlagfertigkeit. Das alles stand in einem gewissen Gegensatz zu ihrer eleganten, aber sehr zerbrechlich wirkenden äußeren Erscheinung.

Der Band "New York, New York" versammelt 47 Prosastücke, die zwischen 1953 und 1968 für den New Yorker verfaßt wurden und dort in der Kolumne "The Talk of the Town" erschienen. Es handelt sich dabei um Beobachtungen ganz alltäglicher Szenen, wie sie in einer Stadt von der Größe New Yorks ständig tausendfach passieren und wie man sie - auch in anderen Städten - permanent selbst erlebt, meist ohne sie richtig wahrzunehmen. Maeve Brennan aber sah und hörte genau hin, und sie destillierte aus diesen zufälligen Begebenheiten und Begegnungen ein Panorama westlichen Großstadtlebens, für das New York - laut Brennan die beschwerlichste, rücksichtsloseste, ehergeizigste, konfuseste, komischste, traurigste, kälteste und menschlichste aller Städte - nicht nur eine, sondern gleichsam die Chiffre ist.
Im Unterschied zum klassischen Flaneur bewegte sich Brennan allerdings weniger zum Selbstzweck durch die Stadt, sondern sie machte ihre Beobachtungen meist auf dem Weg zur Arbeit, beim Essen im Restaurant, beim Einkaufen, in der Hotellobby, beim Warten an der Straßenkreuzung oder in der Tierklinik - also an jenen öffentlichen und halböffentlichen Orten, an denen sich die berufstätigen Frauen der Mittelschicht in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg üblicherweise bewegten. Daraus erklärt sich auch die Ausschnitthaftigkeit des Erzählten (Brennan selbst spricht nicht zufällig von "Schnappschüssen"): Steigt die Autorin aus dem Zug oder verlassen ihre Tischnachbarn das Lokal, entschwinden die gerade noch Beobachteten aus dem Fokus. Dennoch verweisen diese fragmentarischen, prägnant und äußerst anschaulich geschilderten Alltagszenen stets auf übergeordnete Fragen, nämlich jener nach der Eigenart metropolitanen Lebens am Beispiel New Yorks ebenso wie jener nach den menschlichen Verhaltensweisen, Ängsten und Obsessionen zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das Interesse der Autorin gilt dem Aussehen und der Kleidung von Personen nicht minder wie deren Handeln und Sprechen, mit der ihr eigenen Sorgfalt und Detailgenauigkeit beschreibt sie aber auch Gegenstände, Gebäude oder Tiere. In Brennans Texten geht es zum Beispiel um einsame alte Frauen, die wegen einer defekten Fahrstuhlbeleuchtung aus ihrer nur noch mühsam aufrecht erhaltenen, nichtsdestotrotz überlebensnotwendigen Alltagsroutine kippen, um erheiternde, absurde, trostlose oder peinliche Szenen in Restaurants und auf der Straße oder um die Verstrickungen, in die man sich selbst manövriert, wenn man aus Höflichkeit Fremden gegenüber die eigenen Interessen nicht mehr zu wahren imstande ist und sich beim verzweifelten Versuch, glimpflich aus solchen Situationen herauszukommen, furchtbar lächerlich macht. Manchmal dringt auch schlichte Wut an die Oberfläche, wenn etwa einem erst kürzlich erworbenen Schuh in einem völlig ungeeigneten Moment der Absatz wegbricht, oder wenn wegen des pöbelhaften Verhaltens anderer Kunden eine Buchhandlung fluchtartig verlassen werden muss, ohne vorher in einem soeben entdeckten Buch noch genauer nachlesen zu können, wie Balzac seine Sardinenpaste zubereitete. 


Letzteres ist Thema der Geschichte "Balzacs Lieblingsspeise", ein Text, der davon handelt, wie einem das Stöbern in einem Buchladen verleidet werden kann, wenn eine Gruppe lauthals kreischender und sich aufs Unangenehmste rücksichtslos gebärdender Schreckgestalten das Geschäft betritt, voller Gier auf billigste Schnäppchen und voller Hohn und Abschätzigkeit wegen vermeintlich noch immer zu hoher Preise. Auf wenigen Seiten und mit pointierten Sätzen entfaltet Brennan in dieser Geschichte ein Bild von "Grausamkeit, Dummheit und rohem Lärm", die einen glücklichen Moment der Entdeckerfreude und Kontemplation unversehens vernichten. Vor allem, wenn man derartige Szenen selbst schon erlebt hat, wird man die Empörung über diese Störenfriede so unmittelbar nachvollziehen können, dass man sie am liebsten eigenhändig aus dem Geschäft werfen möchte. Zugleich erfüllt einen die Freude über Brennans treffsichere Sprache und ihren gnadenlos wachen Blick, so dass man gleich ihr besänftigt ist angesichts ihres Entschlusses, am späteren Abend die Buchhandlung erneut aufzusuchen, um in Ruhe das Rezept für Balzacs Lieblingsspeise zu lesen und diese dann selbst zuzubereiten.
 


Maeve Brennan: New York, New York. Kolumnen. Göttingen 2012 (Steidl Verlag, 280 Seiten, 18,50,- Euro).


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