Abb. aus dem Buch |
"Ich - hinten im Auto": Diesen schönen Titel hat ein Buch für Kinder und Jugendliche, das der Autor und Professor für Kunsterziehung Thomas Zacharias im Jahr 1974 im Otto Maier Verlag Ravensburg publizierte. Gefunden habe ich es kürzlich hinter einem Berg von Arbeitsunterlagen, wo es nun schon einige Jahre herum lag, nachdem es mir von einer Kollegin vermacht wurde, die es zu schade zum Wegwerfen fand - womit sie natürlich Recht hatte (Dank an MTH).
"Ich - hinten im Auto": Das richtete sich an die vielen Kinder, die Jahr für Jahr auf der Rückbank des Familienwagens durch die Gegend gefahren wurden, 52 Wochenenden und einen Urlaub lang, also insgesamt rund 120 Stunden, wie der Autor vorrechnete, und die sich dort oft sagenhaft langweilten. Thomas Zacharias schrieb und gestaltete für diese Automobilistenkinder ein Buch, das ihnen die Fahrten interessanter und vergnüglicher machen sollte.
Für uns heute ist dieses Buch vor allem eine Reise in die Frühzeit der Massenmobilisierung mittels eigenem PKW und es läßt sich mit ihm eine historische Phase erinnern, in der das Autofahren noch nicht ganz so selbstverständlich war, aber auch nicht mehr so aufregend neu, dass bereits das pure Fahren ein Abenteuer gewesen wäre. Ein guter Zeitpunkt also, um die sich einschleichende Normalität und Alltäglichkeit des Autofahrens noch als solche erkennen und reflektieren zu können. So schlägt Zacharias den Kindern Spiele vor, die Verschiebungen in der Wahrnehmung zum Thema haben: Wie und was sieht man im Auto hinten und aus dem Auto hinten hinaus? Zum Beispiel immer nur die Hinterköpfe der Eltern, wodurch die Aufmerksamkeit weg vom Gesicht auf die Haare gelenkt wird.
Auch zur Geschichte der materiellen Kultur hat das Buch einiges zu bieten - siehe zum Beispiel die fotografische Vergleichsstudie auf der Abbildung oben, mit der die Verwandtschaft zwischen der Wohnzimmermöblierung daheim und der Möblierung des fahrenden Wohnzimmers deutlich wird. Oder die ausführliche Schilderung von diesem Ding-Kosmos, der sich in den Rückbankritzen finden läßt:
"Kleine Sachen verschwinden in der Ritze zwischen Sitzbank und Rückenlehne. Sie kommen erst zum Vorschein, wenn man danach gräbt wie Ausgräber nach alten Scherben. Zum Beispiel: ein Schlüssel, ein Zündholz, ein Tempotaschentuch, eine Schraubenmutter, ein Knopf, Ritzenschmutz, eine Sicherheitsnadel, ein Pfennig, ein Kaugummi, Silberpapierkugeln [...].Ich selbst habe mir als Kind die Zeit hinten im Auto übrigens damit vertrieben, die Ortskürzel auf den Nummerntafeln und die Länderkennzeichen zu enträtseln, während einer meiner Brüder Statistiken über das Kuhaufkommen links und rechts von der Straße erstellt hat.
Ich stelle mir eine zukünftige Zeit vor, in der von unserer Zeit alles verschwunden ist, bis auf die Gegenstände aus der VW-Ritze. So wie von vergangenen Zeiten alles verschwunden ist, bis auf ein paar Scherben, Pfeilspitzen und Knochenreste. Also keine Autos, Straßen, Städte, Kugelschreiber, Tennisschläger, Ölgemälde, Ölraffinerien, Ölkrisen, Ölsardinen, Düsenflugzeuge, Blumenvasen, Brücken, Zahnbürsten [...].
Kurz: nichts, nichts, nichts, außer diesen Sachen aus der Ritze.
Ich stelle mir ein Museum vor: Jeder Gegenstand aus der Ritze ausgestellt in einer Vitrine in einer riesigen Halle mit Kuppel und Säulen.
Man redet von der 'Pfennigzeit' oder der 'Kaugummizeit' oder der 'Tempotaschentuchzeit' oder einfach von der 'Zeit aus der Ritze', weil man ja nicht weiß, wozu die einzelnen Gegenstände gut gewesen sein sollen, und man streitet, ob sie einzeln mit der Hand oder in Serien mit Maschinen gemacht wurden, und ob es kostbare Dinge waren: nur für wenige oder für alle [...].
Ich stelle mir vor, daß das alles nicht sein kann, nicht nur, weil es dann sicher auch kein Museum und keine Museumsführungen und keine Leute mit Gedanken und Erinnerungen gäbe, sondern weil schon jetzt so viel da ist, daß eher zuviel als zu wenig übrig bleibt. Wenn ich mir das alles vorstelle und ausmale, reicht es bei der Urlaubsfahrt mindestens bis nach Oberitalien." (S.30-35)
Abb. aus dem Buch |
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