Nachdem die Zeit der vorweihnachtlichen Konsumräusche vorbei ist, kann man sich wieder mehr dem gewöhnlichen Konsumalltag - zum Beispiel jenem im Supermarkt - widmen. Als literarische Begleitung mit ethnographischem Mehrwert empfiehlt sich:
David Wagner:
Vier Äpfel. Roman. Reinbek bei Hamburg 2009 (Rowohlt Verlag, 159 Seiten, 17,99
Euro).
„Vier Äpfel“ – ein
Buchtitel, der so seltsam klingt, wie er neugierig macht. Der Klappentext
verrät: David Wagner, Jahrgang 1971, schreibt über das Einkaufen. Die Handlung:
ein einziger Supermarktbesuch des männlichen Ich-Erzählers. Wem das für einen
ganzen Roman etwas dürftig vorkommt, der rechnet nicht mit Wagners Beobachtungs- und
Assoziationslust.
Die auf dem Umschlag zitierte Charakterisierung des deutschen Autors als „The Proust-inspired West German stylist“ erscheint einem zunächst gewagt. Doch nach und nach verdichtet sich die anfänglich etwas „jugendlich“ bemüht wirkende Erzählweise zu einer ethnographisch anmutenden Studie über das Einkaufen und Essen in Zeiten von Globalisierung, Normierung und scheinbar endlosen Wahlmöglichkeiten, über die Bedeutung von Konsum und Konsumgütern für die Identität des postmodernen Menschen. Und tatsächlich finden sich Anklänge an Proust, denn die Erkenntnis, dass Dinge ebenso wie Geruchs- und Geschmacksempfindungen Erinnerungen auszulösen und zu transportieren imstande sind, ist auch bei Wagner ein wichtiges Thema.
Die auf dem Umschlag zitierte Charakterisierung des deutschen Autors als „The Proust-inspired West German stylist“ erscheint einem zunächst gewagt. Doch nach und nach verdichtet sich die anfänglich etwas „jugendlich“ bemüht wirkende Erzählweise zu einer ethnographisch anmutenden Studie über das Einkaufen und Essen in Zeiten von Globalisierung, Normierung und scheinbar endlosen Wahlmöglichkeiten, über die Bedeutung von Konsum und Konsumgütern für die Identität des postmodernen Menschen. Und tatsächlich finden sich Anklänge an Proust, denn die Erkenntnis, dass Dinge ebenso wie Geruchs- und Geschmacksempfindungen Erinnerungen auszulösen und zu transportieren imstande sind, ist auch bei Wagner ein wichtiges Thema.
Der Autor schickt seinen
Helden zu einer Art Feldstudie in den Supermarkt. Den Einkaufswagen vor sich
her schiebend beschreibt dieser alles, was er sieht und macht. Und zwar ohne
Wertung, alles ist ihm gleich wichtig, egal, ob es sich um Waren,
Geschäftsausstattung, Verkäuferinnen, Kunden oder Kommunikationsformen handelt.
Schnell erklärt sich der rätselhafte Titel: Vier Äpfel ergeben auf der Waage in
der Obst- und Gemüseabteilung exakt 1.000 Gramm. Ob das wohl Zufall ist, fragt
sich der Einkäufer, und mutmaßt sogleich, dass es sich um eine abpackgerechte
Züchtung handeln muss. Mit Überlegungen dieser Art geht es weiter. Praktisch
alles, was es an automatisierten und ritualisierten Alltagshandlungen im
Supermarkt so gibt, wird reflektiert.
Dabei lässt sich der
Einkäufer weniger von seiner Einkaufsliste leiten, als von dem, was ihm gerade
ins Auge, ins Ohr oder in die Nase dringt. Häufig erinnern ihn Produkte und
Gerüche an „früher“. Zum Beispiel an L., seine Ex-Frau, oder an das kindliche
Warenwissen, erworben im Werbefernsehen. In diesen Passagen ähnelt der
Einkäufer ein wenig den Akteuren der „Wickie-Slime-und-Paiper“-Retrowelle vor
einigen Jahren. Allerdings bewegt er sich nie nur im Feld des
wohlig-nostalgischen Erinnerns, dafür ist sein Zugang letztlich zu analytisch.
Unterstrichen wird dies durch einen pseudo-wissenschaftlichen
Anmerkungsapparat, der weiterführende Hinweise historischer wie persönlicher
Natur enthält.
Wagners Einkäufer mag mit
seinen Überlegungen und seinem Staunen manchmal etwas naiv und kindlich, ja
verloren in der Welt des Supermarktes wirken, der Autor ist es gewiss nicht.
Die in seinem Roman verhandelten Fragen und Probleme lassen auf eine
Beschäftigung mit aktuellen theoretischen Ansätzen zur Bedeutung des
Konsumierens für postmoderne Identitätskonstruktionen schließen. Das kommt
jedoch nicht aufgesetzt und gelehrt daher, sondern als Merkmal der
selbstreflexiven Konsumpraxis des Ich-Erzählers.
Trotz aller Anklänge an die
Figur des Flaneurs des 19. Jahrhunderts, jenes Jahrhunderts, das mit Warenhaus
und Passagen die ersten Manifestationen der modernen Konsumgesellschaft
hervorgebracht hat, ist Wagners Supermarkteinkäufer ganz in der Gegenwart
verankert. Trotz oder wegen der schier endlosen Warenfülle wähnt er sich nur
auf den ersten Blick im Paradies. Vergiftet wird es ihm nicht nur durch das
verdächtige Gewicht der Äpfel. Sein Hang zum Hinterfragen weist ihn als ein
fragmentiertes Subjekt aus, dem die Selbstverständlichkeit und „Unschuld“ der
alltäglichen Handlungen abhanden gekommen ist. Einfach einkaufen gehen, Dinge
besorgen, die man gerade braucht – das ist für ihn keine Option mehr. Ständig
schieben sich Gedanken über die ökologischen, ökonomischen und sozialen
Auswirkungen seines Tuns dazwischen. So erscheinen die Erinnerungen an die
Kindheit und die entschwundene Liebe wie Beschwörungen besserer,
unkomplizierter Zeiten, da es Mütter, Großmütter und Ehefrauen gab, die genau
wussten, was man braucht, und wie und wo man es besorgt.
Dieser Text erschien in
einer stark gekürzten Version erstmals als:
Susanne Breuss: Supermarkt-Studie. David Wagners Roman „Vier Äpfel“. In: Wiener
Zeitung Extra, 23./24. Oktober 2010, S. 9.
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