"Wir wurzeln alle im Alltage.
Seine Gewohnheiten machen für die
meisten schlechthin das Leben aus.
In diesem Alltag, den bloss der unbesonnene
Élegant des Geistes bespöttelt, liegt etwas
sehr Grosses ... liegt unsere Cultur."
Michael Haberlandt: Cultur im Alltag. Wien 1900.



Samstag, 12. Januar 2013

DRUCKSACHE NR. 8: Begegnungen mit Dingen im Supermarkt




Nachdem die Zeit der vorweihnachtlichen Konsumräusche vorbei ist, kann man sich wieder mehr dem gewöhnlichen Konsumalltag - zum Beispiel jenem im Supermarkt - widmen. Als literarische Begleitung mit ethnographischem Mehrwert empfiehlt sich:   


David Wagner: Vier Äpfel. Roman. Reinbek bei Hamburg 2009 (Rowohlt Verlag, 159 Seiten, 17,99 Euro).

„Vier Äpfel“ – ein Buchtitel, der so seltsam klingt, wie er neugierig macht. Der Klappentext verrät: David Wagner, Jahrgang 1971, schreibt über das Einkaufen. Die Handlung: ein einziger Supermarktbesuch des männlichen Ich-Erzählers. Wem das für einen ganzen Roman etwas dürftig vorkommt, der rechnet nicht mit Wagners Beobachtungs- und Assoziationslust.  

Die auf dem Umschlag zitierte Charakterisierung des deutschen Autors als „The Proust-inspired West German stylist“ erscheint einem zunächst gewagt. Doch nach und nach verdichtet sich die anfänglich etwas „jugendlich“ bemüht wirkende Erzählweise zu einer ethnographisch anmutenden Studie über das Einkaufen und Essen in Zeiten von Globalisierung, Normierung und scheinbar endlosen Wahlmöglichkeiten, über die Bedeutung von Konsum und Konsumgütern für die Identität des postmodernen Menschen. Und tatsächlich finden sich Anklänge an Proust, denn die Erkenntnis, dass Dinge ebenso wie Geruchs- und Geschmacksempfindungen Erinnerungen auszulösen und zu transportieren imstande sind, ist auch bei Wagner ein wichtiges Thema.

Der Autor schickt seinen Helden zu einer Art Feldstudie in den Supermarkt. Den Einkaufswagen vor sich her schiebend beschreibt dieser alles, was er sieht und macht. Und zwar ohne Wertung, alles ist ihm gleich wichtig, egal, ob es sich um Waren, Geschäftsausstattung, Verkäuferinnen, Kunden oder Kommunikationsformen handelt. Schnell erklärt sich der rätselhafte Titel: Vier Äpfel ergeben auf der Waage in der Obst- und Gemüseabteilung exakt 1.000 Gramm. Ob das wohl Zufall ist, fragt sich der Einkäufer, und mutmaßt sogleich, dass es sich um eine abpackgerechte Züchtung handeln muss. Mit Überlegungen dieser Art geht es weiter. Praktisch alles, was es an automatisierten und ritualisierten Alltagshandlungen im Supermarkt so gibt, wird reflektiert.
Dabei lässt sich der Einkäufer weniger von seiner Einkaufsliste leiten, als von dem, was ihm gerade ins Auge, ins Ohr oder in die Nase dringt. Häufig erinnern ihn Produkte und Gerüche an „früher“. Zum Beispiel an L., seine Ex-Frau, oder an das kindliche Warenwissen, erworben im Werbefernsehen. In diesen Passagen ähnelt der Einkäufer ein wenig den Akteuren der „Wickie-Slime-und-Paiper“-Retrowelle vor einigen Jahren. Allerdings bewegt er sich nie nur im Feld des wohlig-nostalgischen Erinnerns, dafür ist sein Zugang letztlich zu analytisch. Unterstrichen wird dies durch einen pseudo-wissenschaftlichen Anmerkungsapparat, der weiterführende Hinweise historischer wie persönlicher Natur enthält.

Wagners Einkäufer mag mit seinen Überlegungen und seinem Staunen manchmal etwas naiv und kindlich, ja verloren in der Welt des Supermarktes wirken, der Autor ist es gewiss nicht. Die in seinem Roman verhandelten Fragen und Probleme lassen auf eine Beschäftigung mit aktuellen theoretischen Ansätzen zur Bedeutung des Konsumierens für postmoderne Identitätskonstruktionen schließen. Das kommt jedoch nicht aufgesetzt und gelehrt daher, sondern als Merkmal der selbstreflexiven Konsumpraxis des Ich-Erzählers. 
Trotz aller Anklänge an die Figur des Flaneurs des 19. Jahrhunderts, jenes Jahrhunderts, das mit Warenhaus und Passagen die ersten Manifestationen der modernen Konsumgesellschaft hervorgebracht hat, ist Wagners Supermarkteinkäufer ganz in der Gegenwart verankert. Trotz oder wegen der schier endlosen Warenfülle wähnt er sich nur auf den ersten Blick im Paradies. Vergiftet wird es ihm nicht nur durch das verdächtige Gewicht der Äpfel. Sein Hang zum Hinterfragen weist ihn als ein fragmentiertes Subjekt aus, dem die Selbstverständlichkeit und „Unschuld“ der alltäglichen Handlungen abhanden gekommen ist. Einfach einkaufen gehen, Dinge besorgen, die man gerade braucht – das ist für ihn keine Option mehr. Ständig schieben sich Gedanken über die ökologischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen seines Tuns dazwischen. So erscheinen die Erinnerungen an die Kindheit und die entschwundene Liebe wie Beschwörungen besserer, unkomplizierter Zeiten, da es Mütter, Großmütter und Ehefrauen gab, die genau wussten, was man braucht, und wie und wo man es besorgt.  


Dieser Text erschien in einer stark gekürzten Version erstmals als:
Susanne Breuss: Supermarkt-Studie. David Wagners Roman „Vier Äpfel“. In: Wiener Zeitung Extra, 23./24. Oktober 2010, S. 9.
 

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